Filmfestspiele in Cannes: Wunden, die bleiben
Vor der Preisverleihung am Samstag bleibt es spannend. Womöglich geht die Goldene Palme an einen Thriller aus Brasilien oder ein Drama aus Norwegen.

Kurz vor Schluss geht das Rätseln um die Goldene Palme der 78. Filmfestspiele von Cannes, die an diesem Sonnabend verliehen wird, unverändert weiter. Unter Kritikern weichen die Urteile zu den möglichen Gewinnern zum Teil stark voneinander ab, aber allgemein herrscht die Ansicht vor, dass es den großen Favoriten im Wettbewerb bisher nicht gibt.
Dabei fehlt es nicht an erfolgreich mutigen Filmen, darunter die schon vorgestellten Beiträge „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski mit seinem vielstimmigen Familienporträt über vier Generationen hinweg oder Óliver Laxes heftig schöner Wüstentrip „Sirāt“.
Einen eigenen Dreh für den Umgang mit Geschichte wählt der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho in seinem fiebrig verwirrenden Thriller „The Secret Agent“. Die Handlung spielt im Jahr 1977 während der Militärdiktatur, die Hauptfigur, der Wissenschaftler Marcelo (Wagner Moura) ist auf der Flucht nach Recife unterwegs.
Flucht vor zwei Killern
Er hatte sich mit einem mächtigen Unternehmer angelegt, da Marcelos Forschungsarbeit bei diesem Begehrlichkeiten geweckt hatte, wogegen sich der redliche Forscher zu wehren versucht hatte. Jetzt hat der Unternehmer zwei Killer losgeschickt, die hinter ihm her reisen.
Mendonça setzt gleich zu Beginn des Films den Ton, zeigt Marcelo, wie er auf der Landstraße an einer Tankstelle für Benzin hält, um wenige Meter entfernt eine verwesende Leiche zu entdecken, die notdürftig mit Pappe zugedeckt ist. Als wenig später die Polizei eintrifft, interessiert die sich nicht für den Toten, sondern will bloß Marcelos Papiere kontrollieren.
Die ständige Bedrohung durch den Tod, um den sich zugleich kaum jemand zu scheren scheint, vermischt Mendonça mit Bildern, die von tropischer Schwüle durchfeuchtet scheinen, einem trügerisch leichten Bossa-Nova-Soundtrack und einer Art des Erzählens, die das Publikum über viele Einzelheiten lange im Dunkeln lässt. Das verwirrt, doch auf ansteckende Weise. Und Walter Mouras stoische Verlorenheit wäre allein schon preiswürdig.
Konkurrenz aus Norwegen
Bei den Schauspielern, aber auch beim ganzen Rest hat Mendonça inzwischen Konkurrenz aus Norwegen bekommen. Joachim Trier bietet mit „Sentimental Value“ (Affeksjonsverdi) ein grandioses Kammerspiel mit den Hauptdarstellern Renate Reinsve, Inga Ibsdotter Lilleas und Stellan Skarsgård als Dreierkonstellation aus Töchtern und Vater.
Nora (Reinsve) ist erfolgreiche Schauspielerin, Agnes (Lilleas) arbeitet als Historikerin an der Uni. Ihr Vater Gustav ist berühmter Filmregisseur, allerdings liegt sein letzter Spielfilm einige Jahre zurück. Die Beziehung der Töchter zum Vater hat sich abgekühlt, nach der Trennung der Eltern lebten die Schwestern bei der Mutter. Gustav hingegen verschwand für sie.
Der Tod ihrer Mutter bringt die Familie scheinbar wieder zusammen. Gustav taucht kurz bei der Trauerfeier auf, bittet Nora um ein privates Treffen. Sie vermutet Unerfreuliches, um zu erfahren, dass Gustav ein neues Drehbuch fertig hat, das er mit ihr in der Hauptrolle verfilmen möchte. Er habe den Part für sie geschrieben. Nora schickt ihn darauf zum Teufel.
Renate Reinsves Spiel
Joachim Trier lässt vor allem Renate Reinsve viel Raum, um die Nöte von Nora zu zeigen. Gesprochen wird einigermaßen viel, doch sind es bei ihr die körperlichen Gesten wie ein leichtes Verrutschen des Gesichts oder eine Anspannung, die sich nicht entladen will, über die man vom Leiden ihrer Figur am meisten erfährt.
Und Stellan Skarsgård vollbringt es mit seiner minimalen Mimik, die Verschlossenheit von Gustav nicht hermetisch, sondern als brüchigen Panzer erscheinen zu lassen. Gut denkbar, dass sich auch die Jury dafür begeistern kann. Gerechtfertigt wäre es.
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