: Worpsweder Wunder
■ Das „Weltdorf“ am Weyerberg hat jetzt „Sehnsucht nach Landschaft?“: Zum ersten Mal haben sieben Kunstveranstalter ein gemeinsames Projekt auf die Beine gestellt. Es ist eine Art Worpswede-Documenta
Ursula Neugebauer hat einen heißen Sommer vor sich. Die Künstlerin hat im Garten des Hauses im Schluh, dem Worpsweder Familienmuseum der Erben Martha und Heinrich Vogelers, Margeritenstauden angepflanzt. Jetzt rupft sie jeder einzelnen Blüte die weißen Blütenblätter aus. Sie wissen schon: „Er liebt mich, ... er liebt mich nicht ...“ Doch so richtig romantisch ist das nicht. Eher schweißtreibend. Denn Margeriten treiben viele Blüten. Irrsinnig viele. So wie Worpswede in diesem Sommer.
Ursula Neugebauers Rupf-Spektakel namens „... von Herzen, mit Schmerzen ...“ ist nur eine von vielen Aktionen, mit denen das so genannte Künstlerdorf am Weyerberg noch bis Oktober von sich reden macht. Denn ausgerechnet im Expo-Jahr 2000 ist in Worpswede ein kleines Wunder geschehen. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte der Künstlerkolonie haben sich sieben Museen und KunstausstellerInnen zusammengerauft und ein gemeinsames Projekt auf die Beine gestellt: Nach eineinhalbjähriger Vorbereitung hat Worpswede jetzt „Sehnsucht nach Landschaft?“ Mit Fragezeichen.
Otto Modersohn, Fritz Mackensen und Hans am Ende hatten diese Sehnsucht. Genervt von der Starre an der Düsseldorfer Kunstakademie und inspiriert von französischen Freilichtmalern, beging das Trio gegen Ende des 19. Jahrhunderts Stadtflucht und verwandelte das Dorf bei Bremen in eine Künstlerkolonie. Leute wie Heinrich Vogeler, Paula Becker-Modersohn oder Ottilie Reylaender folgten und verewigten das Worpsweder Landleben in ihren Bildern. Über 80 ähnliche Künstlerkolonien hat es damals in Europa gegeben. Doch im Gegensatz zu vielen anderen gilt Worpswede noch immer als Künstlerdorf und trägt ziemlich schwer an diesem Erbe.
Worpswede ist wie ein Musical. Die Leute kommen zahlreich, doch sie verlangen, dass ihre Erwartungen erfüllt werden. Deshalb hängt Heinrich Vogelers „Sommerabend“ wohl seit Jahr und Tag an derselben Stelle in der Großen Kunstschau. Deshalb machen an jeder zweiten Straßenecke Kunst- und Antiquitätenhändler einen auf Künstlerdorf. Und deshalb wirkte Worpswede trotz aller Anstrengungen von KuratorInnen, Gemeinde und Kreis, junge KünstlerInnen ins Dorf zu holen, bislang immer ziemlich abgeschmackt.
So hätte es bleiben können bis ans Ende aller Tage. Doch nun haben neun beteiligte KuratorInnen das besagte Wunder geschehen lassen und zwei Jahre nach dem vergleichsweise kleinen Gemeinschaftsprojekt „Heinrich Vogeler und der Jugendstil“ eine Art Worpswede-Documenta inszeniert. Wie es heißt, hat's ein Generationswechsel in den Ausstel-lungshäusern und auch anderswo möglich gemacht und dem früher üblichen Nebeneinanderher-Gewurschtel ein Ende gesetzt.
Das alte Worpswede ist kaum wiederzuerkennen. Denn allüberall im öffentlichen Raum zwischen Weyerberg und Hammewiesen haben KünstlerInnen ihre Spuren hinterlassen. Im Wettbewerb „Fundorte – Landschaftsvisionen“ spielt Ping Qiu am raffiniertesten mit der „Sehnsucht nach Landschaft?“ und dem Spannungsverhältnis von Kultur und Natur: Im Teich am Barkenhoff schwimmen „Fingerblumen“. Auf den ersten Blick sehen sie wie Seerosen aus. Doch auf den zweiten entpuppt sich die Idylle als Gebilde aus Gummihandschuhen, die sich wie Hände von Ertrinkenden aus dem Wasser recken.
Etwas höher auf dem Weyerberg kann man sich in den Dixi-Klo-großen Kabinen von Waldemar Grazewicz selbst ein Bild von der Landschaft machen oder auf der Marcusheide bei Alex Gattnar-Blanks und Holger Arndts etwas esoterischem, aber eindrucksvollen Birkenkreis bestaunen, wie Holz im Sonnenlicht zu „glühen“ beginnt.
Land Art à la Richard Long ist offenbar out. Nur Ursula Neugebauer verbeugt sich vor dem berühmten Steinplatten-Leger. Die ausgerupften Blütenblätter ihrer Margeriten hat sie in der Galerie im Alten Rathaus zu einem Kreis ausgelegt. Doch dieser Kreis wird mit der Zeit zu einem Berg anwachsen. In der Galerie sind übrigens alle Projekte dokumentiert und weitere zeitgenössische Arbeiten zu sehen.
Ein paar Meter weiter überschreitet die polnische Künstlerin Ludwika Ogorzelec die Grenzen zwischen innen und außen: Sie lässt ein Geflecht oder besser Gerüst aus Ästen aus der Worpsweder Kunsthalle durch's Fenster nach draußen wuchern. Die Kuratorin Susanne Boehme-Netzel hat sie dazu eingeladen. Ohnehin ist ihr Konzept in der Kunsthalle unter den Ausstellungen am konsequentesten und erfrischendsten.
Zwar konfrontiert auch der Barkenhoff seinen Hauskünstler Heinrich Vogeler mit zeitgenössischer Kunst zum Thema „Worpsweder Frühlinge“. Und auch die Große Kunstschau zeigt neben Bildern der Expressionistin Marianne von Werefkin (1860-1936) auch etwas neue Kunst von Hans-Georg Rauch bis Georg Baselitz. Doch Susanne Boehme-Netzel mischt in der Kunsthalle alles munter durcheinander und macht am wenigsten Konzessionen an die Besucher-Erwartungen. Da hängen Land-schaftsbilder der „Alten Worpsweder“ neben Großformaten von Emil Schumacher oder einer Serie mit pastos übermalten Fotos von Gerhard Richter. „Man ist heute so auf Kürzel eingeschossen“, weiß Susanne Boehme-Netzel. Heute werde schon ein waagerechter Strich als Horizont identifiziert. In der Kunsthalle ist in einem mit Leihgaben der Niedersächsischen Sparkassenstiftung ergänzten Worpsweder Zeitraffer zu sehen, welche explosionsartige Entwicklung die Kunst des 20. Jahrhunderts hinter sich gebracht hat.
Nach dieser Wucht der Bilder lockt das Haus im Schluh zu einer Erholungspause. Das Familienmuseum erinnert an den Gartengestalter Heinrich Vogeler und hat ebenfalls zeitgenössische KünstlerInnen eingeladen. Unter ihnen Ursula Neugebauer, die sich vielleicht beim Margeritenrupfen helfen lässt. Christoph Köster
„Sehnsucht nach Landschaft?“ bis zum 8. Oktober in Worpswede. Eintritt: 22 Mark, Familienkarte: 35 Mark. Zu den Ausstellungen gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Konzerten, Theater, Führungen und Vorträgen. Am 17. Juni findet die zweite Worpsweder Museumsnacht mit Programm von morgens bis in die späte Nacht statt.
Außerdem ist der Moor-Express ab Osterholz-Scharmbeck wieder im Einsatz: Siebenmal pro Tag ist Worpswede inklusive Umsteigen in Osterholz in 45 Minuten Fahrzeit vom Bremer Hauptbahnhof zu erreichen. Alle Termine sind in einem Sonderheft zum Projekt abgedruckt, das an der Gästeinformation Worpswede, Bergstraße 13, erhältlich ist. Weitere Infos bei der Gästeinformation unter 04792/95 01 21. Moor-Express-Karten gibt's im BSAG-Center am Hauptbahnhof
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