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Wolken sind überall

Der „Ottokrat“: Die Berlinale-Retrospektive ist Otto Preminger gewidmet, dem Meister des Film Noir, der lange Einstellungen und elegante Kamerafahrten liebte und am Ende selbst den Superschurken gab  ■ Von Lars Penning

Kaum ein anderer Filmregisseur stand in den fünfziger Jahren derart im Mittelpunkt öffentlichen Interesses und in der Diskussion wie Otto Preminger. Für die Vertreter der „politique des auteurs“ bei der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma war Preminger der Säulenheilige schlechthin. Seine Mise en scène, die Kunst, in langen Einstellungen mit unaufdringlichen, aber eleganten Kamerafahrten die Charaktere zueinander in Beziehung zu setzen, seine Inszenierung der Figuren im Raum galt den späteren Regisseuren der Nouvelle Vague als Maß aller Dinge.

Die Kamera sei immer da, wo sie sein müsse, schrieb Eric Rohmer über Premingers „Exodus“ (1960). Die Wahl einer Einstellung wurde für Premingers Adepten zur Frage der Moral: Richtig oder falsch, dazwischen gab es nichts. „Das Werk Premingers ist reine Schönheit“, so Rohmer. Und im Namen der Schönheit habe er alles geopfert: Wahrscheinlichkeit, Realismus, Psychologie.

Premingers Kritiker mochten sich dieser rein formalen Sichtweise nicht anschließen. Zu banal erschienen ihnen seine Themen, zu wirr die Geschichten, zu unsympathisch die Figuren. Daß sich Preminger in seinen Filmen einer Wertung der moralisch oft recht zweifelhaften Helden verweigerte und seinem Publikum die Intelligenz zutraute, selbst zu urteilen, galt als unschicklich.

Uberhaupt war er denen, die sich seinerzeit als Amerikas selbsternanntes moralisches Gewissen verstanden – wie die katholische Legion of Decency –, geradezu ein Schreckgespenst: Erstmals in der Geschichte der Production Code Administration – der Selbstzensurbehörde der amerikanischen Filmindustrie – weigerte sich Preminger 1953 in seiner Eigenschaft als unabhängiger Produzent und Regisseur, die verlangten Änderungen an seinem Film „The Moon Is Blue“ (“Wolken sind überall“) vorzunehmen. Ohne Freigabe durch die PCA kam der Film dennoch in die Kinos, entwickelte sich gar zu einem Kassenerfolg. Und das alles nur, weil im Dialog der harmlosen Boulevardkomödie Worte wie „professionelle Jungfrau“ und „Verführung“ auftauchten. Preminger hatte den Code geknackt: Daß auch das Cold-Turkey-Drama „The Man with the Golden Arm“ (“Der Mann mit dem goldenen Arm“) mit Frank Sinatra zwei Jahre später ohne Freigabezertifikat der PCA blieb, weil Drogensucht als nicht tolerables Thema galt, hatte kaum mehr Auswirkungen auf den kommerziellen Vertrieb des Films.

Dem Publikum war Preminger vor allem als der „Ottokrat“ unter den Regisseuren bekannt. Ein unumschränkter Diktator auf dem Set, der die Schauspieler mit seiner Penibilität und seinen gefürchteten cholerischen Ausbrüchen in Angst und Schrecken versetzte. Genüßlich kostete der jüdische Regisseur mit der markanten Glatze, der einst Max Reinhardts Nachfolger als Intendant beim Wiener Theater in der Josefstadt gewesen war, bei seinen gelegentlichen Auftritten als Schauspieler sein teutonisches Image aus, indem er – wie in Billy Wilders „Stalag 17“ – meist arrogante Nazis verkörperte.

Daß Klappern zum Handwerk gehört, wußte Preminger nicht nur in bezug auf seine eigene Person. So ließ er 1956 mit gewaltigem Medienrummel eine Hauptdarstellerin für die Rolle der heiligen Johanna in seiner Verfilmung von G.B. Shaws „Saint Joan“ (“Die heilige Johanna“) suchen und wählte schließlich die damals völlig unbekannte achtzehnjährige Jean Seberg, die kurze Zeit später in Europa zur Inkarnation der modernen Amerikanerin avancierte. Preminger befand sich stets auf der Höhe der Zeit: Er begrüßte technische Neuerungen wie das CinemaScope, verfilmte aktuelle Bestseller wie „Bonjour Tristesse“ oder „Anatomy of a Murder“, ließ Moden und gesellschaftspolitische Veränderungen in seine Filme einfließen. So findet sich im spannenden Psychokrimi „Bunny Lake Is Missing“ (“Bunny Lake ist verschwunden“, 1965) ein – bei aller Düsternis – seltsamer Touch des gerade angesagten Swinging London, und für die Farce „Skidoo“ (1968) begab sich Preminger gar ins Milieu der Hippies und Blumenkinder.

Heute gestaltet sich der Zugang zu Premingers Oeuvre eher schwierig: Längst werden filmtheoretische Auseinandersetzungen nicht mehr mit jener Emphase und Rigorosität geführt, die seinerzeit die Kinoenthusiasten der Cahiers auszeichnete. Beim Blick auf die Filme des amerikanischen Studiosystems wurde die Autorentheorie von der „politique des collaborateurs“, dem Bewußtsein von Kino als einer Gemeinschaftsarbeit, verdrängt. Und Premingers Einfluß auf das aktuelle amerikanische Kino ist gering: Die Wahl einer Einstellung ist heute keine Frage der Moral mehr, sondern des Geldes.

Als Person ist Preminger – anders als Alfred Hitchcock – aus dem öffentlichen Bewußtsein weitgehend verschwunden. Und seine Vorreiterrolle als Tabubrecher und Kämpfer gegen überkommene Moralvorstellungen läßt sich zwar rekonstruieren, doch nur noch schwer nachvollziehen. In einer Zeit, in der das Sexualleben des amerikanischen Präsidenten im Internet diskutiert wird, erscheint der Aufruhr, den einst die „professionelle Jungfrau“ hervorrief, nur noch grotesk. Die Lächerlichkeit der Zensurdebatte hatte Preminger allerdings schon früh erkannt und als zynischen Gag inszeniert: In dem spannenden und – weil die Frage nach Schuld oder Unschuld für den Zuschauer offen lassend – ungewöhnlichen Gerichtsfilm „Anatomy of a Murder“ (“Anatomie eines Mordes“, 1959) finden sich Richter, Staatsanwalt und Verteidiger einmal zu einer kleinen Beratung zusammen, um zu überlegen, ob sie in der Verhandlung das „anstößige“ Wort Damenhöschen durch einen anderen Begriff ersetzen können. Und zwar nachdem sie zuvor bereits die unerfreulichen Details einer Vergewaltigung in allen Einzelheiten öffentlich diskutiert hatten.

Schöne Kollektion von Trotteln

Was also bleibt von Premingers Werk? Zunächst einmal die Melodramen und Films Noirs, die er in der Zeit von 1944 bis 1952 vornehmlich als angestellter Produzent und Regisseur der 20th Century Fox drehte: „Laura“, „Fallen Angel“ (“Mord in der Hochzeitsnacht“), „Daisy Kenyon“, „Whirlpool“, „Where the Sidewalk Ends“ (“Faustrecht der Großstadt“) und der für RKO entstandene „Angel Face“ (“Engelsgesicht“). Geschichten, die immer wieder um Frauen kreisen, die die falschen Männer auswählen, und um Männer, die sich von den Frauen falsche Vorstellungen machen.

„Für ein intelligentes Mädchen haben Sie sich mit einer ganz schönen Kollektion von Trotteln umgeben“, sagt der Detektiv Mark McPherson (Dana Andrews) in „Laura“ (1944) zur gleichnamigen Heldin (Gene Tierney), die, anfangs scheinbar ermordet, plötzlich wieder in Persona auftaucht. McPherson meint Lauras Verlobten, einen charakterschwachen Tunichtgut, der sie mit ihrer Tante betrügt, sowie Waldo Lydecker (Clifton Webb), den gescheiten, zynischen Kolumnisten, der wie Pygmalion versucht, Laura nach seinen Vorstellungen zu erziehen. Doch der Detektiv hätte seine Bemerkung auch gut auf sich selbst beziehen können: Denn McPherson, der Laura aus den Armen des einen und vor den Mordanschlägen des anderen retten wird, sieht in ihr keine reale Person, sondern ein Traumbild. Längst hatte er sich in die vermeintlich Tote verliebt, ein Vorgang, den Preminger in einer wunderbaren, wortlosen Sequenz verdeutlicht. Die Kamera folgt Mark auf dem Weg durch Lauras Wohnung: wie er ihre Briefe liest, ihre Lieblingsplatte hört, in ihrer Garderobe und ihren Schränken stöbert, an ihrem Parfum riecht und immer wieder auf das gemalte Porträt über dem Kamin blickt. Schließlich sinkt er mit einem Drink in der Hand in den Sessel gegenüber vom Kamin und schläft ein. Es wird die reale Laura sein, die ihn aus seinen Träumen wachrüttelt. Am Ende aber ersetzt McPherson mit seiner nekrophilen Obsession den wahnsinnigen Lydecker bei Laura.

Noch deutlicher erscheint die Austauschbarkeit der Männer in „Where the Sidewalk Ends“ (1950). Wieder treffen Gene Tierney und Dana Andrews aufeinander: Sie, Morgan Taylor, ist geschieden von einem Schlägertyp, den er, der unbeherrschte Polizist Mark Dixon, beim Versuch einer Festnahme unbeabsichtigt totschlägt.

Um von seiner Tat abzulenken und um eine falsche Spur zu legen, verkleidet sich Dixon als der Tote, wobei ein großes Pflaster in der linken Gesichtshälfte eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. Am Ende benötigt Dixon – meist mehr damit beschäftigt, seinen Totschlag zu vertuschen, als Verbrecher zu jagen – nach einer Prügelei wirklich ein Pflaster an der gleichen Stelle. Und die verliebte Morgan hat den einen Schläger nur gegen einen anderen getauscht.

Der Psychiater und die perfekte Ehefrau

Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind bei Preminger stets von Verstellungen geprägt: In „Fallen Angel“ (1945) heiratet Dana Andrews Alice Faye nur ihres Geldes wegen, und in „Whirlpool“ (1949) erweist sich die scheinbar glückliche Ehe eines Psychiaters (Richard Conte) und seiner Frau (Gene Tierney) als eine einzige Lüge. Sie ist eine Kleptomanin, die sich ihm nicht anvertrauen mag, weil sie seiner Erwartung der perfekten Hausfrau entsprechen will. Und als sie in die Fänge eines unseriösen Hypnotiseurs gerät, der sie in ein Mordkomplott verwickelt, glaubt der Mustergatte ihr kein Wort ihrer Unschuldsbeteuerungen. Die Konvention des Happy-Ends unterläuft Preminger in seinen schwarzen Geschichten mit konstanter Boshaftigkeit: Glücklich können diese Leute miteinander einfach nicht mehr werden.

„Angel Face“ (1952) verzichtet konsequenterweise ganz auf ein Happy-End: Die verwöhnte und verdorbene Diane Tremayne (Jean Simmons) reißt die Opfer ihrer Intrigen mit in den Tod. Doch nicht ohne zuvor in einer langen, an „Laura“ erinnernden Sequenz noch einmal durch die Räume ihres großen Hauses zu streifen, sich ihrer Erinnerungen versichernd, indem sie die Gegenstände berührt, die einst ihrem abgöttisch geliebten Vater gehörten.

Nachdem sein Vertrag mit der 20th Century Fox 1953 endete, stürzte sich Preminger als unabhängiger Produzent und Regisseur in den folgenden Jahren in exorbitant epischen Werken mehr und mehr auf die „großen“ Themen: die Staatsgründung Israels (“Exodus“), Politik und Demokratie (“Advise and Consent“ – „Sturm über Washington“, 1962), die katholische Kirche (“The Cardinal“, 1963), Rassenproblematik (“Hurry Sundown“ – „Morgen ist ein neuer Tag“, 1966). Doch je wichtiger der Inhalt wurde, desto ausufernder und formloser wurden seine Filme.

Otto Premingers Filme bleiben ein intellektuelles Vergnügen, das erarbeitet sein will. Ein Triumph der Form über den Inhalt, Kino eher für den Kopf als für den Bauch. Doch kann man einem Mann, der seinen Kindern eine freudige Überraschung bereitete, indem er unverhofft in zwei Folgen ihrer Lieblingsfernsehserie „Batman“ als Superschurke Mr. Freeze auftrat, deshalb böse sein?

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