Wolfsburg und Volkswagen: Wo das Leben sicher und stabil ist
Ein Herz, darin zwei Buchstaben: VW. Wie gehen die Bewohner der Stadt, die von und mit dem Konzern lebt, mit dem Dieselskandal um?
Gerade einmal 350 Meter liegt das Tattoo-Studio Culture Shocks vom Werk entfernt. Wer einen Termin beim Chef haben will, wartet dafür auch mal Jahre, reist aus dem Ausland an, um seine Kunst tragen zu können. Die von VW kommen hierher, um sich Tachometer auf ihren Körper stechen zu lassen oder einen brennenden Golf auf einem Hügel aus Totenschädeln.
Klar, für das Geschäft ist VW gut, sagt der junge Mann mit Bart und Käppi, der am Tresen steht. Sein Namen soll nicht in der Zeitung stehen, denn was er dann sagt, klingt zweifelnder: Wenn der Opa, der Vater und die Mutter schon bei VW arbeiten, die Sicherheit und Stabilität vorleben, die Kinder im Takt der Schichten großziehen, welche Visionen vom eigenen Leben bleiben dann noch den Jungen? „Die träumen davon, Unterabteilungsleiter zu werden, dann bekommen sie tausend Euro mehr“, sagt der Bärtige. „Wie kannst du dich weiterentwickeln – dich selbst und dein Umfeld?“
Sicherheit und Stabilität. Das ist es, was die Konzernzentrale über die Stadt hinweg ausstrahlt. Wohnblocks, die mit den Verkaufszahlen der Autos in die Höhe geschossen waren. Straßen, die nach Porsche oder früheren VW-Chefs benannt sind; Krankenkassen und Immobilienbüros tragen gut sichtbar die Namen der Automarken, irgendwo ist immer ein Schornstein des Werks zu sehen.
Empört?
In Wolfsburg ballt sich der große Skandal um manipulierte Abgaswerte und Kartellabsprachen auf wenigen Quadratkilometern. Fast 60.000 Menschen arbeiten hier für VW, noch mehr für die Zulieferer. Über die Hälfte der Einwohner also. Wer sein Leben für VW aufbraucht, hat allen Grund, empört zu sein. Das sind die Wolfsburger doch – oder?
An einer Tankstelle unweit der Dieselstraße halten die glänzenden Neuwagen zum ersten Mal, nachdem Käufer sie abgeholt haben. Diesen Tag zelebriert VW. Die Firma lädt Kunden ein, im Fünf-Sterne-Hotel zu übernachten, im Sterne-Restaurant zu essen oder eine Zirkusvorstellung auf dem VW-Gelände zu besuchen. Hier, an der Tankstelle, sind die Besitzer zum ersten Mal alleine mit ihrem Auto. Man erkennt sie an ihren Händen, die am Gurt vorbeigreifen oder über Amaturen streichen. Helmut Neumann ist da geübter.
Neumann befüllt ein grünes Beatle-Cabriolet. „R-Linie, 110 KW, also 150 PS, zwei Liter, tankt Super“, sagt er. Es ist die Bestellung einer Stammkundin, einer Adeligen, die Wert darauf legt, dass die Farbe ihres Autos zum Wappen der Familie passt und nur Neumann ihr den Neuwagen bringt. Fast jedes Jahr. „Das ist schon was anderes, ein neues Auto zu fahren“, sagt Neumann, „nur das Verdeck ist etwas laut, wenn man schnell fährt“. Das Verdeck. Ausgerechnet. Auch darüber soll sich das Kartell abgesprochen haben.
Neumann fährt Neuwagen nach Berlin, an den Bodensee, nach England und vergangene Woche nach Frankreich. Er beliefert Fußballspieler, Trainer, Prominente und holt geleaste Wagen wieder ab. „Wie der aussah“, sagt er über das Auto, das ein Schauspieler gefahren hat, „das würde ich mich nicht trauen“.
Jetzt ist erst mal Stau
Hört er bei seinen Stammkunden Zweifel an VW? „Die lassen sich nicht davon abbringen.“ Und er? „Für eine andere Marke würde ich den Job nicht machen.“ Neumann ist eigentlich Rentner. Aber durch diesen Job darf er auch schon mal Bentley fahren, 600 Kilometer von München bis Wolfsburg, zuletzt im Januar. Wie das war? „Ich bin im Schneegestöber stecken geblieben.“
VW: Die jüngsten Kartellvorwürfe gegen die deutschen Autobauer befeuern auch die Klagen gegen den VW-Konzern. „Die Volkswagen-Aktionäre rufen jetzt an und sagen: ‚Jetzt reicht’s‘“, sagte Marc Tüngler von der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierbesitz. Nach langem Zögern entschlössen sie sich, sich dem in Braunschweig anhängigen Musterverfahren gegen Volkswagen wegen des Dieselskandals anzuschließen.
Daimler: Der Stuttgarter Autokonzern meldete am Mittwoch Rekordzahlen für Umsatz und Gewinn. Für Mercedes-Benz war das zweite Quartal den Angaben zufolge des absatzstärkste der Geschichte. Zur Debatte über das Autokartell wollte sich Konzernchef Dieter Zetsche nicht äußern.
Schichtwechsel, 14 Uhr. Vor Tor 17 halten Autos. Sie spucken Menschen in Arbeitshosen und Kapuzenpullis aus, Männer mit Plastiktüten in der Hand, wenige Frauen, noch weniger Hemdenträger oder Anzüge. Sie übergeben den Takt der Stadt an diejenigen, die Feierabend machen. Hunderte, die sich in ihre Autos setzen und nach Gifhorn oder Braunschweig fahren. Jetzt ist erst mal Stau.
Dort, wo der Verkehr wieder flüssiger wird, am Rande eines Schrebergartens, steht Ottavio Lo Bianco hinter dem Holztresen der Gaststätte „Sonnenschein bei Otto“. Früher hat er zum Ende der Werksschicht Bier vorgezapft, heute sitzen hier zu wenig Menschen, um ein Kartell zu bilden.
12 Kinder mit einem VW-Gehalt
Lo Bianco veranstaltet Familienfeiern. „Mein Vater ist nur mit einem Schuhkarton nach Deutschland gekommen, mit einer Schnur umwickelt. So“, sagt er und mimt, er trage einen Karton in seiner Hand. Das war in den 1960ern und sein Vater Gastarbeiter aus Sizilien. In Wolfsburg standen Baracken für die Italiener, später dann moderne Wohnblocks, in die Lo Biancos Mutter mit ihren zwei ältesten Kindern nachzog. Insgesamt bekam sie 12 Kinder, so viele lassen sich mit einem VW-Gehalt durchbringen.
Lo Bianco hat sich mit 22 selbstständig gemacht. Er ist der Einzige aus der Familie, der nie im Werk gearbeitet hat. Wird er krank, verdient er nichts. Brauchen seine Geschwister mehr Geld, legen sie einfach ein paar Nachtschichten im Werk ein.
Hinter dem Tresen klebt ein Herz, darin zwei Buchstaben: VW. 65.000 dieser Aufkleber hatte ein Optiker davon drucken lassen, als der Abgasskandal 2015 hochkochte, inzwischen klebt er vielerorts in der Stadt.
Lo Bianco fuhr auch einen Diesel, zum Glück nur geleast, er hat ihn zurückgegeben. „Die anderen Firmen sind doch viel schlimmer!“, sagt er. Die Betrügereien des Autokonzerns ein Skandal? Hier will man das nicht so sehen. Was sollten sie auch machen in Wolfsburg? „Wenn die untergehen, gehen wir doch alle unter.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“