Wohnen im Winzling

Auch in Minihäusern läßt es sich leben und arbeiten. Den italienischen Eisverkäufer Remo dal Col im schmalsten Haus des Berliner Nordens besuchte  ■ Kathi Seefeld

Im Hausflur, gleich links an der Wand, stehen Eierpaletten gestapelt bis unter die Decke. In der Ecke türmen sich Tüten mit Zucker neben Körbchen frischer Erdbeeren und rechts, unweit vom Kühlschrank, Pakete mit Waffeln. Nur über der Tür zur Küche ist noch Platz. „Da soll ein Bild von Schumi hin“, sagt Sonia dal Col und lacht. Der Rennfahrer ist, seit er für eine gewisse Firma startet, der beliebteste Deutsche in Italien, meint sie. Beliebt sind auch Sonia und ihr Mann – in Berlin. Denn Remo dal Col ist mehr als nur irgendein Italiener: Er ist ein „Gelataio“. Auf deutsch heißt das zwar poesielos nichts anderes als „Eisverkäufer“, doch das ändert nichts daran, daß die Berliner durchschnittlich mehr Eis verspeisen als die Italiener selbst.

Remo und sein Bruder verkaufen nur Schleckware, die sie selbst produzieren – auf kleinstem Raum. Denn sie wohnen und arbeiten in dem Haus, das als „Schmales Handtuch“ längst in die Weddinger Stadtgeschichte eingegangen ist. 460 Zentimeter mißt das Haus der dal Cols in der Müllerstraße 156d. Mit Mauern sind es immerhin 5,20 Meter. Eingeklemmt zwischen seinen Nachbarn wirkt das vierstöckige Gebäude eher wie ein Häuschen mit drei Geschossen. Auf dem winzigen Hof ist seit dem Anbau einer Küche etwas Platz für die Mülltonnen.

„Wie kann man in einem so kleinen Haus wohnen?“ fragen manchmal Passanten. Doch Sonia klärt sie auf: „Wenn der Winter kommt, fahren wir nach Hause, nach Italien. Für sieben Monate im Jahr brauchen wir nicht so viele Sachen hier.“ Keine dicken Pullover, keine Bücher. Die Wohnung auf einer Etage reicht zum Essen, zum Fernsehen und zum Schlafen. Die Räume sind zwar niedriger als in anderen Altbauten, aber dennoch reichlich mit Stuck verziert. Eng wirken sie nicht. In den Zimmern steht nur das Nötigste. Bei Remo und Sonia gleich zwei Fernseher nebeneinander. „Auf einem wird gespielt, auf dem anderen geguckt.“ Gleichzeitig? „Gleichzeitig. Aber gespielt wird ohne Ton.“

Das Klo, einst eine halbe Treppe tiefer, ist einem Bad auf der Etage gewichen, kaum größer als ein Quadratmeter. Dreht sich Sonia vom Waschbecken nach links, steht sie gleich in der Dusche. „Ist doch praktisch, unsere Badebude.“ Die 33-Quadratmeter- Wohnung findet sie groß genug. Auch der weiße Perserkater und die beiden Chinchillas hätten da Spaß. Und die Wäsche trocknet unter dem Dach. Der Ausblick über die Müllerstraße gefällt Sonia. Ein wenig Mühe kostet der freilich schon, denn die Fenster beginnen fast in Kniehöhe.

1880, als die Zigarettenmacher Reichhard das Kleinod von einem Gastwirt erwarben, hatte das Haus nur drei Etagen. Im Erdgeschoß war der Laden, im Keller lagen die Arbeitsräume. Eine Sprechröhre verband die Wohnung im ersten Stock mit dem Laden. Wenn Kundschaft kam, wurde auf diesem Weg Bescheid gesagt. Wegen der Kinder ließ der Zigarrettenmacher dann aufstocken.

Eine separate Tür, um in die Wohnungen zu gelangen, gibt es, seitdem 1936 der Kaffeekaufmann Marold sein Geschäft in der Nummer 156d eröffnete. Heute füllt der Eistresen der dal Cols den Raum. Er mißt rund zwei Meter, die dahinter liegende Produktionsstätte in Edelstahl mit Milchkochern, Rührgeräten und allem, was ein Gelatio so braucht, ist mit wenigen Schritten zu erreichen. Remo dal Col ist zufrieden. „Abends, nach der Arbeit gehen wir viel zu Freunden. Es ist nicht besonders reizvoll, hier zu Hause zu hocken, also unternehmen wir viel.“ Sonia wohnt gern in so einem besonderen Haus, dessen Geburtsstunde 1850 schlug, als das Erbpachtgesetz aufgehoben und die Besitzer zu Eigentümern wurden. Da wurde das Grundstück Müllerstraße 156 zunächst in a, b und c zerlegt und stückweise lukrativ verkauft. Übrig blieb ein lächerlicher Rest, die 156d.

Kleine Häuser wie das der dal Cols sind selten geworden. Vor dem Mauerbau verstaltete der Berliner Heimatforscher Franz Lederer Wanderungen zu den kleinsten Häusern der Stadt. Unweit des S-Bahnhofes Hackescher Markt fand er beispielsweise am Zwirngraben ein zwei Meter breites Haus mit nur einem Fenster je Etage. Nach 1961 rückte die Nummer vier der Schmalhäuser, die Müllerstraße 156 d, zwangsläufig in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei stand ursprünglich das echte „Schmale Handtuch“ von Wedding in der Müllerstraße 83. Üppig wurde in so kleinen Häusern nie gewohnt. Die Hamburgerin Ilse Belter schrieb den Weddingern 1989 in ihr Heimatarchiv, daß sie als Kind einmal im „Schmalen Handtuch“ gewesen sei. „Im Erdgeschoß lag der Stall. Um in die beiden einzigen Wohnräume zu kommen, mußten die Bewohner eine Stiege hinaufgehen.“

Den Krieg hat die Müllerstraße 83 nicht überstanden. Nun durfte sich das Haus 156d „Schmales Handtuch“ nennen. Hier wohnte ab 1945 der italienische Instrumentenbauer Nello Frati, später zog die Zigarrenfirma Krüger und Overbeck ein. 1977 kaufte es der Gelataio Franco dal Col. Zu ihrem Zuhause ist das Handtuchhaus für Sonia allerdings nie geworden: „Mein Zuhause ist unsere 108 Quadratmeter große, schicke Wohnung in Italien, wo wir ja immerhin den Rest des Jahres nicht arbeiten müssen.“