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Wohnen im PlattenbauSuhls grüne Betonfestung

Aus der alten Plattenwohnsiedlung am Rande der Stadt Suhl in Thüringen sind die meisten längst ausgezogen. Doch wer geblieben ist, bleibt zufrieden.

Die Natur erobert das Wohngebiet zurück Foto: Barbara Thériault

Suhl taz | Der kleine weiße SUV rollt den grünen Hang hinauf. Oben auf der Spitze des Berges steht ein kreisförmiges Ensemble von Wohnblöcken. Man sieht es von Weitem; eine Burg oder Festung aus Betonplatten. Ringsherum ist fast alles abgebaut, leer geworden.

Eine in der Nähe wohnende Kollegin von der Lokalzeitung und ich biegen in eine Straße ein, die nach oben führt. Sie sagt: „Hier war mal die größte Plattenwohnsiedlung der Stadt. Es gab alles.“

Das Ensemble steht nun allein auf der Spitze eines der Berge, die die ehemalige Bezirkshauptstadt umrahmen und ausmachen. In den 2000er Jahren wurde das Viertel drastisch rückgebaut; heute ist es weitgehend verlassen. Von der Infrastruktur sind vor allem Zigarettenautomaten übriggeblieben. Um sich das Verschwundene und Zerstörte vorstellen zu können, muss man genau hinschauen. Da fallen einem Indizien auf: Geländer samt Rampen, die ins Nichts führen, rote Metallpunkte, Hydranten, in den von Brombeerranken überwucherten Wegen. Die Natur, mühsam von Rasenmähern im Zaum gehalten, erobert sich das Wohngebiet zurück.

Wir fahren in die Mitte des kreisförmigen Ensembles hinein. Während die Wohnblöcke von außen wie eine Festung wirken, entsteht im Inneren ein friedliches Bild: ein grüner Hof mit einfach angelegter Parkanlage. Wir steigen aus dem kleinen SUV. Zwei Frauen um die siebzig in Hosen und T-Shirts stehen im Hof. Die Hände in die Hüften gestützt, unterhalten sie sich.

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Die Hofgesellschaft trifft sich

Gleich werden wir Zeuginnen einer kleinen Szene. Einzelne Menschen aus den umliegenden Blöcken tropfen langsam in die Mitte. Sie machen kleine Schritte, manche schieben Rollatoren oder tragen ein Sitzkissen. Nach einigen Minuten hat sich eine kleine Gesellschaft von etwa zwölf alten Männern und Frauen im Hof versammelt. Auf der einen Seite nehmen die Frauen unter einem Sonnenschirm Platz, auf der anderen Seite die Männer, deren wackelige Knie mit Tapes gestützt sind. Sie plaudern über Krankheiten, Sport und die Nachbarschaft; einer raucht, ein anderer singt.

Die zwei Frauen, die uns neugierig beobachtet haben, kommen auf uns zu. Wir erfahren, dass manche Be­woh­ne­r:in­nen sich bei schönem Wetter jeden Tag nach dem Mittagsschlaf hier treffen, gelegentlich bis zu 23 Menschen. Bei besonderen Anlässen werden Bratwürste gegrillt, Männer bekommen ein Bier, Frauen einen Piccolo: „Alles in Maßen. Es wird schon aufgepasst“, sagt eine der Frauen.

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In den oberen Etagen werden einzelne Fenster geöffnet. Eine andere, ungeformte und lose Gesellschaft – eher ein Publikum – schaut aus den Fenstern in den Hof. Auch wenn nicht alle am Nachmittagsplausch teilnehmen, heißt das nicht, dass sie kein Interesse haben.

Die Mitglieder der kleinen Hofgesellschaft gehören zu den Letzten, die noch in diesem Viertel wohnen. Einige von ihnen sind Erstbezieher (1983); sie sind als junge Familien hier eingezogen. Sie haben hart gearbeitet und Kinder im gleichen Alter bekommen und großgezogen. Heute sind die Kinder und Enkelkinder fortgezogen, aber nicht unbedingt weit entfernt. Nun werden sie gemeinsam alt.

Man lässt sie vorläufig in Ruhe – sie haben alte DDR-Mietverträge, die bis 2040 gültig sind. Sie gehen nicht mehr weg. „Nach mir die Sintflut“, sagt die eine Frau, und: „Sie müssen mich hier raustragen,“ meint die zweite.

Unser Gespräch wird unterbrochen. Ein zehnjähriger Junge mit Schulranzen überquert den Hof. Die Frauen sprechen ihn freundlich an, er solle seine Eltern grüßen. Er wird von einem der Blöcke geschluckt. Er geht zu denen, die wir gerade nicht sehen, die uns aber theoretisch aus den Fenstern beobachten könnten: Jüngere, oft Familien ausländischer Herkunft.

Über die Zeit sind neue Nach­ba­r:in­nen zu den alten DDR-Bürgern gekommen. „Es geht mit ihnen. Wir haben sie erzogen“, meinen die beiden Frauen einstimmig.

Haus 23 kümmert sich um die Älteren

Wir können uns gut leiden. Meine Kollegin und ich werden in das Haus Nummer 23 reingebeten, zu einer der beiden Frauen. Wir bekommen einen Blick ins Innere der Festung: den vor 30 Jahren installierten Fahrstuhl, den Balkon, die angebrachten Rollos. Manche, die im Hof sitzen, scheinen sich ein bescheidenes Reich errichtet zu haben. In die Wohnung des Hauses 23 holten sich die Be­woh­ne­r:in­nen Exotik herein: Sie besitzen acht Papageien und zahlreiche Orchideen, darunter eine seltene Spinnenorchidee. In den Urlaub fahren sie nicht. Dafür gibt es DDR-Bücher in den Regalen, etwa über frühere Olympische Spiele.

Bei einer Tasse Kaffee wird das Gespräch fortgesetzt. Was halten sie davon, dass eine Motorradgruppe die ehemalige Einkaufspassage des Viertels erworben hat und sie wiederbeleben will? „Ach! Wer weiß schon, ob es was wird. Es gibt immer wieder Versuche …“, reagiert die eine Frau gelassen. „Wir passen auf“, wiederholen die beiden mehrmals.

Obwohl sie selbst nicht mehr die Jüngsten sind, kümmern sie sich um die Älteren im Wohnblockensemble. Sie schreiben Briefe, legen Einspruch bei der Wohnungsgesellschaft ein. Auch politisch wird aufgepasst: „Den einen Reichsbürger haben wir vergrault. Er soll nicht die alten Männer anquatschen“, sagt eine der beiden bestimmt.

Die Mitglieder der Hofgesellschaft fühlen sich nicht – wie meine Kollegin, die täglich zwischen dem Viertel und der Lokalzeitungsredaktion pendelt – genötigt, sich zu rechtfertigen, dass sie hier noch nicht weggezogen sind. Sie schwärmen nicht vom schönen Blick auf die dunklen Berge, von herumhüpfenden Rehen und Füchsen oder von der Ruhe, die oben herrscht. Sie beschweren sich auch nicht. Sie genießen die niedrige Miete und haben sich eingerichtet.

Die Burg bleibt

Wenn man in der kleinen, vollgestellten Wohnung sitzt, nimmt man das Äußere, die Festung, kaum wahr. Was wird, frage ich mich, hier festgehalten?

Mag sein, dass – trotz aller Veränderungen (Arbeitslosigkeit, ein Jahr zu Hause …) – ein Stück DDR und Erinnerungen daran in dieser Enklave konserviert wird, einfach weiterexistiert und eine Eigendynamik angenommen hat.

Wie alle anderen, die nicht zum Wohnensemble gehören – die Pflegekräfte, Sanitä­ter:in­nen, Kuriere, der Hausmeister, die Friseurin – fahren wir auch irgendwann mit dem Auto davon. Wir haben uns von der von mündigen Frauen geführten Gesellschaft verabschiedet.

Noch sind sie nicht ganz alt, noch fahren sie Auto. Im Rückspiegel erscheint dann noch einmal die von wildem Grün zugewucherte Festung.

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