: Wohlstand durch Menschenverachtung
Schmutzige Geschäfte: Das Rundlingsmuseum Wendland, ein regionales Freilichtmuseum in Lübeln im Landkreis Lüchow-Dannenberg, zeigt die Verstrickung der Leinenproduktion der Region in die Düsternisse der Kolonialzeit auf

Von Harff-Peter Schönherr
Wer das Wendland ganz im Osten von Niedersachsen bereist, könnte denken: beschaulich, dieser Flecken Erde: Wald, Wiesen, Dörfchen – idyllisch. Aber auch das Wendland ist nicht ohne Schattenseiten. Nicht nur, dass es hier noch immer ein Atommüll-Zwischenlager gibt – immerhin ist die Planung für eine Hochradioaktiv-Endlagerstätte im Salzstock Gorleben inzwischen Geschichte, nicht zuletzt durch Jahrzehnte örtlicher Anti-AKW-Bewegung. Seit Jüngstem wissen wir auch: Die Region war tief in die Düsternisse der Kolonialzeit verstrickt, als Profiteur.
Denn hier wurde protoindustriell Leinen produziert. Und Leinen diente als Zahlungs- und Verpackungsmittel für Kolonialwaren, war (Tausch-)Ware im Kolonialhandel. So entstand regionaler Wohlstand, groß genug, um bis heute sichtbar zu sein, etwa durch Häuser mit aufwendigen Ziergiebeln. Aber der Hintergrund dieses Wohlstandes war Menschenverachtung.
Das Rundlingsmuseum Wendland, ein regionales Freilichtmuseum in Lübeln, einem Bilderbuch-Runddorf im Landkreis Lüchow-Dannenberg, in dem Besuchende auf den ersten Blick keine Konfliktthemen erwarten, erhellt diese Zusammenhänge. Seine bisher lokal- und technikgeschichtlich geprägte Dauerausstellung zur Geschichte der Leinenproduktion im 18. und 19. Jahrhundert ist reformiert und neu erzählt, erweitert um die Präsentation „Verflochten. Wendländisches Leinen und Kolonialismus“ – eine Globalsicht, die nicht zuletzt die Themen Transkulturalismus und Rassismus berührt, kolonialistische Gewalt.
Hintergrund ist das Forschungsprojekt „Wendländisches Leinen und koloniales Erbe. Spurensuche einer transkulturellen Verflechtung im 18. und 19. Jahrhundert“, durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Fakultät Kulturwissenschaften der Lüneburger Leuphana-Universität, zwischen Herbst 2023 und Sommer 2025. 100.000 Euro steuerte das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur bei.
„Wir zeigen komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge auf, die in der Forschung bisher vernachlässigt waren“, sagt Ruth Stamm der taz, Kulturwissenschaftlerin an der Leuphana-Universität, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts, Kuratorin der Präsentation. „Wir zeigen, dass das Wendland Teil des weltweiten Kolonialsystems war, lange bevor es deutsche Kolonien gab.“
Bisher sei die Neuausrichtung, im Kern erlebbar als Dauerausstellung im Flachs- und Leinenhaus des Museums, in der Region „sehr positiv“ aufgenommen worden, sagt Sarah Kreiseler der taz, die das Museum leitet. Sie hatte die wissenschaftliche Projektleitung, ist ebenfalls Kuratorin der neuen Schau. „Wir sind viel Aufgeschlossenheit begegnet, viel Interessiertheit“, so Stamm, „auch bei sehr alteingesessenen Personen, die selbst mit dem Material Leinen gearbeitet haben.“
Klar sei gewesen, „dass zum Output des Forschungsprojekts eine Ausstellung gehören sollte, auch eine Begleitbroschüre“, sagt sie. „Wir setzen dabei kein großes Diskurswissen voraus, sondern erklären viele grundsätzliche Begriffe in einem Glossar“, ergänzt Stamm.
Die Broschüre enthält nicht nur Historisches, vom Spinnstubenfoto bis zu Fotos und Zitaten versklavter Menschen wie Booker T. Washington und Harriet Jacobs. Sie stellt auch Fragen zur Gegenwart: „Werden Textilien heute unter neokolonialen Bedingungen hergestellt? Welche Rolle spielt moderne Versklavung in der Modeindustrie?“
Ruth Stamm, Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin der Ausstellung
Die Motivation für die Neuausrichtung, den neuen „frischen Blick“, beschreibt Kreiseler so: „Als ich 2022 hier im Museum anfing, bin ich in einem Flyer auf eine kurze Bemerkung gestoßen: Leinen habe als Bekleidung versklavter Menschen gedient. Das ließ mich aufhorchen, das war natürlich eine interessante Spur, das wollte ich weiter erforschen.“ Aber für die Leinenproduktion des Wendlands ließ sich das nicht verifizieren.
Auf den ersten Blick ist Kreiselers Freilichtmuseum ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint: Backhaus, Ziehbrunnen, Wagenremise, Schmiede, Stellmacherei, Töpferei, Obstscheune, Kräuterrondell, Bauerngarten. Aber das täuscht. Das Flachs- und Leinenhaus wurde für die neue Ausstellung komplett ausgeräumt. Und das neue, sehr zeitgenössische Ausstellungsdesign signalisiert: Hier hat sich etwas getan, etwas Grundsätzliches.
Die Begleitbroschüre mündet in künstlerische und literarischen Perspektiven. Eine davon ist Bisrat Negassis Gedicht „Von Flachs und Fesseln – Das Leinen spricht“. In ihm heißt es: „Ich bin das Echo der Zeit, / die zwischen Ackerfurche und Kolonialhafen wucherte. / Ich rieche noch nach Schweiß, nach Erde, nach Afrika, nach Europa – / nach all den Orten, an denen man mich verlangte, / aber nie wirklich fragte. / Ich war Kleid auf nackter Haut, / zu grob für Herren, gerade recht für jene, die man zählte, verkaufte, verschiffte.“
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