Wo Vergangenheit die Zukunft spaltet: In den USA tobt auch ein Kampf um die Vergangenheit
Wie gestaltet man eine gemeinsame Zukunft, wenn die Vergangenheit zwischen allen steht? Auf einem Campus treffen alte Wunden auf neue Fragen.
E s war im Jahr 2017, als die Fotos der Neonazis in Charlottesville um die Welt gingen. In der kleinen Stadt in Virginia wollten sie den Abbau einer Statue vom General und Sklavenhalter Robert E. Lee verhindern. Mit brennenden Fackeln marschierten sie über das Universitätsgelände, eine Teilnehmerin des Gegenprotestes wurde ermordet.
Heute eilen Studentinnen über den Campus, in Cowboyboots, Stanley Cups in der Hand. Ein kleiner Gaza-Protest sammelt sich. Die Statue von Lee gibt es nicht mehr.
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Über Charlottesville sagt man, es sei der Kanarienvogel der USA. Was dieses Land im Großen ausmache, sähe man hier im Kleinen. Während landesweit über den Kampf zwischen Rechtsextrem und Mitte-Links gesprochen wird, erzählt jeder Quadratmeter in Charlottesville von einem anderen Richtungskampf: dem um die Interpretation der Vergangenheit.
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Charlottesville ist die Heimat von Thomas Jefferson, dem Gründungsvater der Vereinigten Staaten, dem Präsidenten, dem Gründer der hiesigen Universität. Charlottesville ist auch die Heimat von Jefferson, dem Sklavenhalter, der eine Hochschule durch Zwangsarbeit erschuf. In meiner ersten halben Stunde hier treffe ich ihn dreimal, aus Metall gegossen, sitzend, stehend, auf einem Podest. 1819 eröffnete Jefferson die Universität mit 123 eingeschriebenen Studenten und bis zu 150 Sklaven. Zweihundert Jahre hat es gedauert, bis es in Charlottesville eine Gedenkstätte über die Versklavung gibt. „Wie könnten wir das Schnalzen der Peitschen vergessen“, steht dort, Worte der versklavten Isabella Gibbons.
Kampf um die Hoheit über die eigene Geschichtsschreibung
Viel mehr erfahre ich aber nicht, die rassismuskritischen Unitouren einer Studentenorganisation wurden vor zwei Monaten von der Universität verboten. Der konservative Gouverneur von Virginia hatte eine republikanische Mehrheit ins Kuratorium der Universität berufen, die intervenierte gegen die „woken“ Führungen.
Der Kampf um die Hoheit über die eigene Geschichtsschreibung ist nicht entschieden, im Gegenteil, er läuft auf Hochtouren. Trumps „Again“ in seinem Slogan bespielt die Nostalgie einer weißen Dominanz in Amerika, Harris setzt dem entgegen, man „ginge nicht zurück“. Gegenwartspolitik, deren Verhandlungsmasse eine Zeit ist, die nicht mehr ist, es vielleicht auch nie war.
Das prägt auch den Klimaaktivismus: Bei einer Diskussionsveranstaltung erzählen Rentner, dass sie weniger über demokratisch-assoziierten „Klimaschutz“ sprechen, als über die „saubere Umwelt“, was an die Nixon-Ära anknüpft. Schwarze Studierende widersprechen, man müsse mit dem white environmentalism brechen, zu lange wurde Umwelt dort geschützt, wo Weiße wohnten, während die Fabriken in mehrheitlich Schwarze Communitys gebaut wurden.
Nachdem ich zwei Tage in Charlottesville verbracht habe, über Thomas Jefferson und den strukturellen Rassismus diskutiert habe, erwähnt ein Student, dass es mitten auf dem Campus ein Kohlekraftwerk gäbe. Ausgerechnet dazu sind wir – unter Klimaaktivisten – vor lauter offenen Wunden der Geschichte nicht gekommen. Wie vereint man sich für eine Zukunft, wenn die Vergangenheit zwischen allen steht? In Charlottesville findet man dazu: Herbstlaub und Fragezeichen.
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