Wissenschaftliche Politikberatung: Europas sieben Wissenschaftsweise

Die Expertengruppe zur Beratung der EU-Kommission hat ihren ersten Bericht vorgelegt. Das Thema war die Messung von Autoabgasen.

Rolf-Dieter Heuer, ehemaliger Generaldirektor vom CERN

Der ehemalige CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer hat den Vorsitz bei der Wissenschaftlichen Beratergruppe der EU-Kommission Foto: imago/CTK Photo

BERLIN taz | Wissenschaft und Politik: kein stressfreies Verhältnis. Auch wenn wissenschaftliche Expertise jenseits des Atlantiks von der neuen US-Regierung derzeit wenig goutiert wird, will in Europa die EU-Kommission an den Ratschlägen von Forschern für ihre Politikgestaltung festhalten. Eine siebenköpfige Expertengruppe zur wissenschaftlichen Politikberatung hat ihre Arbeit aufgenommen und eine erste Empfehlung vorgelegt. Von deutscher Seite gehört der Physiker Rolf-Dieter Heuer dem Gremium an.

Die neue Beratergruppe mit dem sperrigen Namen „High Level Group of Scientific Advisors“ ist für Brüssel der zweite Anlauf, die wissenschaftliche Politikberatung zu institutionalisieren. Die erste Wissenschaftsberaterin der Kommission, Anne Glover, war 2014 in Ungnade gefallen, unter anderem wegen Aussagen zur grünen Gentechnik. Der neue Kommissionspräsident Juncker strich bei Amtsantritt die Position und setzte mit seinem Forschungskommissar Carlos Moedas auf einen breiteren „wissenschaftlichen Beratungsmechanismus“ (Scientific Advice Mechamism, SAM).

Sieben Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern und Disziplinen wurden in das SAM-Gremium berufen: der britische Genetiker Paul Nurse, der französische Mathematiker Cédric Villani, die schwedische Geografin Carina Keskitalo, die portugiesische Materialforscherin Elvira Fortunato, die holländische Soziologin Pearl Dykstra, der polnische Biologe Janusz Bujnicki und der deutsche Physiker Rolf-Dieter Heuer, der bis 2015 das internationale Kernforschungszentrum Cern in Genf leitete und heute als Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) amtiert, einer der größten Wissenschaftsvereinigungen des Landes.

„Wir sind sieben Personen aus sehr unterschiedlichen Forschungsgebieten, was ein großer Vorteil ist“, sagt Heuer im Gespräch mit der taz in seinem Berliner Amtssitz, dem Mag­nus-Haus gegenüber dem Pergamonmuseum. „Wir gehen die Themen daher aus unterschiedlichen Perspektiven an. Das ist sehr fruchtbar und effizient.“

Die neue Organisationsform braucht bei sieben viel beschäftigten Wissenschaftlern zwar einen höheren Abstimmungsbedarf, bringt aber auch Vorteile. Gemeinsamkeit macht stärker als Einzelkämpfertum. „Hinzu kommt“, sagt Heuer, „dass der Scientific Advice Mechanism (SAM) nun nicht mehr direkt an den Kommissionspräsidenten angebunden ist, sondern über den Forschungskommissar Moedas zum ‚College‘ der Kommission gehört. Das bedeutet, dass alle EU-Kommissare Fragen an uns richten können, was auch schon geschah.“

Messlück bei CO2-Emissionen

Ende 2015 berufen, war das SAM-Gremium im vergangenen Jahr vor allem mit dem organisatorischen Aufbau befasst. Im November dann legten sie ihren ersten Empfehlungsbericht vor: „Bridging the gap“ (pdf-Datei). Thema ist die Messlücke bei Kohlendioxid-Emissionen von Autos, deren Werte auf dem Prüfstand anders ausfallen als auf der Straße. Hier werden Vorschläge für verbesserte Messverfahren gemacht, die die Kommission für die nächsten Abgasregulierungen nach 2020 benötigt.

In der Praxis stieß die SAM-Expertise auf positive Resonanz. „Der Bericht ist von fachlich guter Qualität und geht in die richtige Richtung“, urteilt der Automobilexperte der Deutschen Umwelthilfe, Axel Friedrich, gegenüber der taz. Aber er mache „nicht den letzten Schritt, das heutige Zulassungsverfahren durch RDE-Messungen [„Real Driving Emissions“] abzulösen, wie es die Umweltverbände fordern“.

Zwei weitere Themen hat dieExpertengruppe bereits in der Bearbeitung

Auch Martin Kowarsch, der sich am Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) mit Politikberatung beschäftigt, bescheinigt dem Papier zur Autoabgasmessung „hohe wissenschaftliche Qualität, politische Neutralität und gelungene Stake­holder-Beteiligung“, unter anderem durch zwei Workshops. Der Politikwissenschaftler lobt die „hohe Transparenz der Hintergründe und Prozesse“.

Was Kowarsch fehlt, ist eine stärkere Gewichtung der politischen gegenüber den rein technischen Aspekten. Eine Diskussion der „Vor- und Nachteile sowie der Unsicherheiten alternativer Handlungsmöglichkeiten für die Politik“ sei im Bericht nur ansatzweise und oberflächlich enthalten. „Eine Verknüpfung der heikleren Aspekte von Klima- und Verkehrspolitik hat trotz der wechselseitigen Abhängigkeiten kaum stattgefunden“, moniert Kowarsch.

Konsequenzen aufzeigen

Hier sieht der Mercator-Forscher auch die große Chance der SAM-Gruppe, die sie sich bei den nächsten Themen erarbeiten muss. „SAM sollte sich an stärker politische Themen herantrauen und ernsthafter die möglichen Konsequenzen alternativer Politikoptionen beleuchten, damit sie nicht zu einer weiteren gedeckelten Feigenblatt-Einrichtung der wissenschaftlichen Politikberatung in der EU verkommt“, sagt Kowarsch. Für technische Fragen gebe es in der EU über tausend Expertenkommission. Nur dafür hätte die High­level-Gruppe der sieben Wissenschaftsweisen nicht ins Leben gerufen werden müssen.

Aus diesem Geflecht bekommt die SAM-Gruppe schon jetzt Unterstützung. Denn parallell zur Highlevel-Gruppe hat die EU-Kommission ein Netzwerk der europäischen Wissenschaftsakademien aufgebaut. Das Netz mit Namen Sapea („Science Advice for Policy by European Academies“) vereint fünf Dachverbände, zu denen rund 100 einzelne Akademien zu Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften aus allen europäischen Ländern gehören.

Gründungssprecher ist der Berliner Günter Stock, der zuletzt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) vorstand. Fachfragen aus der SAM-Gruppe werden in den Wissenspool der Sapea-Akademien eingespeist. „Wir wollen auf diese Weise die Highlevel-Gruppen mit Fakten versorgen, auf deren Grundlage sie sich ihre Meinungen bildet und Empfehlungen formuliert“, erklärt Stock das arbeitsteilige Verfahren.

SAM-Mitglied Heuer ist sich darüber im Klaren, dass die Unabhängigkeit seiner Gruppe deren höchstes Kapital ist. „Ich muss betonen, dass wir Wissenschaft zur Politikunterstützung machen, aber keine Wissenschaftspolitik“, hebt der Physiker hervor. Im Englischen klinge das noch eleganter: science for policy, not policy for science.

Glaubwürdigkeit ist wichtig

„Denn wenn wir beginnen würden, wissenschaftspolitische Vorschläge zu unterbreiten, könnten wir schnell an Glaubwürdigkeit verlieren“, sagt Heuer. „Wir würden dann Gefahr laufen, nicht mehr als völlig unabhängig angesehen zu werden, sondern als bloße Interessenvertreter der Wissenschaft. Daher halten wir uns explizit aus der Wissenschafts­politik heraus“.

Zwei weitere Themen haben die Experten bereits in der Bearbeitung: neue Techniken in der landwirtschaftlichen Biotechnologie sowie Nahrungsmittel aus den Ozeanen. Noch im März wird eine Empfehlung zur Cybersecurity übergeben. Im April kommt die Siebenergruppe zu ihrer ersten internen Klausur zusammen, um neben Auftragsarbeiten auch stärker eigene interdisziplinäre Themen zu entwickeln. Heuers eigene Präferenzen liegen dabei gar nicht auf der Teilchenphysik. Viel lieber möchte er Expertisen in Gang bringen, die zur Umsetzung der globalen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen beitragen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.