Wissenschaftler und Eugeniker: Sarrazins Vordenker
Eugenik als Mittel gegen eine angeblich drohende "Verdummung und Verschlechterung" der Bevölkerung? Eine Idee mit langer Tradition - auch innerhalb der SPD.
Das Interessante an den Äußerungen Thilo Sarrazins und der vielen Kommentatoren ist, dass sie ein Dilemma unserer Zeit spiegeln. Das Dilemma der Zeit heißt: Die kategorialen Unterscheidungen von Natur- und Sozialwissenschaften, Körper und Geist, Natur und Kultur führen nicht weiter. Was aber passiert, wenn man das Dilemma mehr reflexhaft oder affektiv erahnt, als es zu denken? Davon erzählt die Debatte auf eine fast schon idealtypische Weise.
Vielleicht kann es in diesem Moment ja hilfreich sein, erst einmal mit dem Teil von Sarrazins Gedankengang anzufangen, mit dem er richtig liegt. Sarrazin hat nämlich recht, wenn er behauptet, er bewege sich mit seinen Thesen in einer Linie der sozialdemokratischen Tradition und er sei deshalb kein Nazi.
Die sozialdemokratische Traditionslinie, auf der Sarrazin sich bewegt, hat Anfang des vergangenen Jahrhunderts der Mediziner und Professor für Sozialhygiene in Berlin, Alfred Grotjahn (1869-1931), begründet. Grotjahn saß für die SPD von 1921 bis 24 im Reichstag. Er hat entscheidend an den gesundheitspolitischen Maßgaben der SPD in der Weimarer Republik mitgearbeitet und mit seinem 1926 erschienenen Lehrbuch "Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik" die wesentlichen Thesen Sarrazins vorbereitet.
Alfred Grotjahns Anliegen war es, die Verdummung und Verschlechterung der Bevölkerung aufzuhalten und dann durch Eugenik umzukehren. Dafür wollte er die "vorwiegend auf Gefühlsregungen, Wünschen, Befürchtungen oder fragwürdigen Forderungen des Tages" aufbauenden Meinungen versachlichen und politisch-praktisch handhabbar machen.
Die Grundlagen der Eugenik, die Alfred Grotjahn wissenschaftlich für so geklärt hielt wie Sarrazin die Sache mit der Vererbbarkeit der Intelligenz, sollten zum "Gemeingut auch nicht-fachmännischer Kreise" werden, weil sie übergreifen auf "Politik, Volkswirtschaft und die aktuellen Fragen der nationalen Existenz und Geltung namentlich unseres Landes".
Auch Sarrazin will nichts anderes. Die Übereinstimmung mit Grotjahn geht aber bis in die zitierten Quellen. Beide erwähnen Charles Darwin und Francis Galton und bei beiden schlägt die Sympathie in Richtung Galton aus.
Sir Francis Galton, ein Vetter Darwins, der 1909 wegen seiner Verdienste um die Eugenik geadelt wurde, hatte ab der Mitte der 1860er Jahre die Eugenik systematisiert. Gesichtsvermessungen und durchdeklinierte Ratschläge, welche Menschen sich am besten mit bestimmten anderen verpaaren sollten, beließ Galton nicht nur im Stand von Wissenschaft und Theorie.
Er verlieh allen Ernstes Preise an besonders fortpflanzungstaugliche Familien, um sie zu weiterer Zucht zu bewegen. Im Unterschied zu Darwin, für den sich die Vererbungsproblematik auf die Formel "like begets like" und die Mutationsannahme einer "Abstammung mit Modifikationen" beschränkte, hielt Galton alle menschlichen Eigenschaften für vererbt.
Denkt man Sarrazins Zahlenspiel, nach dem 50 bis 80 Prozent der Intelligenz vererbt seien, mit der Erwähnung Galtons zusammen, wird ein Schuh daraus. Intelligenz ist damit naturgegeben und kann durch keinen Fortschritt der Volksbildung verbessert werden. Konkret geht das bei Sarrazin so: "Ich würde aus Berlin eine Stadt der Elite machen … Die Zahl der Studenten sollte gesenkt werden, und nur noch die Besten sollten aufgenommen werden."
Das ist das uralte Elitekonzept, nach dem Wissenschaft und Wahrheit ihrem Wesen nach nur Wenigen zugänglich sind und den Vielen auf immer verschlossen bleiben. Das widerspricht zwar dem alten Arbeiterbildungsideal der frühen SPD, geht aber gut zusammen mit den aktuellen Exzellenzinitiativen an den Universitäten, die nichts anderes sein wollen als eben die Schulen der Besten.
Sarrazin hängt in diesem Fall nur mit dem Konjunktiv der Entwicklung hinterher, die von Rot-Grün genauso betrieben wurde wie von der großen Koalition und allen Länderkoalitionen. Sarrazins Elitismus ist politischer Mainstream. Peinlich wirkt er vor allem, weil er mit deutschem Beamtendünkel sich paart. Da scheut man dann auch nicht davor zurück, mal kurz die aktuelle Genetik zum Gemeingut "nicht-fachmännischer Kreise" zu machen.
Interessant ist aber auch ein Blick auf die Veröffentlichung in der Nature-Ausgabe vom 8. Juli dieses Jahres, aus der Sarrazin sein "Juden-Gen" falsch abstrahiert hat. In der Studie geht es um die Struktur des Genoms der über die Welt verstreuten jüdischen Gemeinden. In deren Genom fanden die Forscher einige Gensequenzen, die unter den Juden ähnlich waren und wesentlich häufiger auftraten als unter nichtjüdischen Vergleichspopulationen. Die entsprechenden Gensequenzen kamen aber überall vor, es lag lediglich eine Häufigkeitsverschiebung vor.
Ein Phänomen, das Populationsbiologen auch bei Inselpopulationen wie den Isländern finden. Das wars, mehr steht in dem Text nicht und interessant ist er zuerst für Historiker, die mit dem Material nämlich die These stützen können, dass alle jüdischen Gruppen ihren Ursprung in der Levante hatten. Von einem Juden-Gen ist darin nirgendwo die Rede. Was auch nicht verwunderlich ist, weil es ein Juden-Gen genauso wenig gibt wie ein Intelligenz- oder Faulheits-Gen.
Die Genetik hat sich von der Vorstellung einer eindimensionalen Lesart, die vom Gen zum Phänomen führt, verabschiedet. Wie weit sie dabei mittlerweile geht, kann man an der Nature-Studie ablesen, an der auch Linguisten und Kulturwissenschaftler mitwirkten. Die Biologisierung des Menschen, das wissen die Nature-Autoren, lässt sich nicht ohne seine kulturelle Prägung denken. Die Biologisierung des Menschen ist selbst ein Teil der modernen Kultur, und eine wirkliche Kritik Sarrazins müsste hier ansetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe