Grundeinkommen in Flensburg ausprobieren“

Sozialwissenschaftler Jürgen Schupp vom Berliner DIW fordert die Bundesregierung auf, neue Formen der sozialen Sicherungauszuprobieren, auch als Hartz-IV-Alternative

Er war einer der Glücklichen, die ein Grundeinkommen erhielten Foto: Hannes Koch

Interview Hannes Koch

taz: Früher fanden Sie die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens unsinnig. Jetzt nicht mehr. Warum?

Jürgen Schupp: Mich erstaunt, wie viele Leute dieses Konzept mittlerweile für bedenkenswert halten. Bei der Abstimmung 2016 in der Schweiz stimmte ein Viertel der Teilnehmer dafür. Hunderttausende in Deutschland unterstützen die Organisation „Mein Grundeinkommen“. Gleichzeitig hat das Hartz-IV-System keinen guten Ruf. Und als Sozialwissenschaftler mache ich mir Sorgen darüber, dass die Digitalisierung zahlreiche Arbeitsplätze vernichten könnte und wir den Menschen außer Hartz IV keine Alternative anbieten. Dies kann die Stabilität unseres Sozialsystems infrage stellen, das derzeit ja überwiegend mit Beiträgen aus den Arbeitseinkommen finanziert wird.

Wenn jeder Bürger 1.000 Euro monatlich aus öffentlichen Kassen erhielte, kostete das rund 800 Milliarden Euro jährlich. Die Summe klingt nicht nach einer Lösung des Finanzierungsproblems.

Auf jeden Fall müsste man mehr Steuern als heute auf Kapital, Vermögen und Unternehmensgewinne erheben. Und Digitalkonzerne müssten höhere Beitrag in Ländern leisten, in denen sie Gewinne erwirtschaften. Aber zugegeben: Das ist kompliziert, langwierig und umstritten. Deshalb erscheint es mir sinnvoller, darüber zu diskutieren, wer ein Grundeinkommen wirklich braucht und wie man es schrittweise einführt. Ich denke zum Beispiel an die Langzeitarbeitslosen.

54 Prozent der Teilnehmenden einer repräsentativen Befragung von rund 2.000 Erwachsenen plädierten dafür, in Deutschland ein ähnliches Experiment zum Grundeinkommen durchzuführen, wie es gegenwärtig in Finnland läuft. Das ermittelte das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Die bisher unveröffentlichten Ergebnisse liegen der taz vor. 49 Prozent der Teilnehmer sprachen sich außerdem dafür aus, hierzulande ein Bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, bei dem alle Bundesbürger steuerfinanzierte staatliche Leistungen erhalten, auch wenn sie nicht arbeiten wollen. 89 Prozent aller erwerbstätigen Befragten erklärten, sie würden weiterarbeiten, wenn sie ein solches Garantieeinkommen erhielten. Für ein Erwerbstätigenkonto, wie es die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles in ihrem „Weißbuch 4.0“ anregte, sprachen sich 44 Prozent aus, der Erprobung dieses Modells stimmten 52 Prozent zu.

Wer Anspruch auf Hartz IV hat und zusätzlich arbeitet, muss auf einen Großteil der Sozialleistungen verzichten. Denn das Arbeitslosengeld wird mit dem Lohn verrechnet. Sollte man das abschaffen?

Das könnte einen Schritt in Richtung des Grundeinkommen sein. Das heutige Anrechnungsmodell wirkt weniger als Anreiz, um sich aus Hartz IV her­auszuarbeiten, sondern eher als Bremse. Besser wäre es, zusätzlich zu kleinen Einkommen großzügigere Pauschalen zu gewähren.

Andrea Nahles propagierte einst das sogenannte Erwerbstätigenkonto – ebenfalls ein Schritt zum Grundeinkommen?

Foto: Detlef Guethenke

Jürgen Schupp, 62 ist Professor für Soziologie und Vizedirektor Sozio-oekonomisches Panel.

Diese Idee entwickelte der Verteilungsforscher Anthony Atkinson, und mein Kollege Steffen Mau hat sie für Deutschland ausgearbeitet. Danach bekäme jeder Bürger den Anspruch auf etwa 20.000 Euro steuerfinanzierten Geldes, um sich fortzubilden, selbstständig zu machen, ein Sabbatjahr zu nehmen oder ins Ausland zu gehen. Ich würde mir wünschen, dass die neue Bundesregierung das konkretisiert und als Lebenschancenbudget für einige Jahre erprobt.

Die finnische Regierung führt ein Experiment durch, bei dem 2.000 Arbeitslose ein Grundeinkommen erhalten, wenn sie selbst eine neue Arbeit finden. Ein Vorbild?

Ich bin unbedingt dafür, dass auch die Regierungen in Berlin und den Bundesländern ein ähnliches Experiment ermöglichen. Die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein hat ja schon beschlossen, eine Ideen­werkstatt für neue Sozialmodelle einzuberufen. Wenn wir das Grundeinkommen in einer Stadt wie Flensburg ausprobierten, kämen wir weg von den theoretischen Debatten und würden praktische Erfahrungen sammeln.