Wissenschaft des Ärgerns: Die Wut im Bauch rauslassen
Wut und Ärger in Maßen helfen oftmals im Leben weiter. Schädlich dagegen ist, wenn man den Ärger ständig herunterschluckt.
Brüllende Vorgesetzte, keifende Ehepartner, stänkernde Eltern, aggressive Kinder: Ärger und Wut haben in Zeiten des positiven Denkens und des „Chill mal!“-Mantras kein gutes Image. Wer seinem Ärger öffentlich Ausdruck verleiht, etwa wütend aufstampft, schreit oder flucht, wird schief angesehen. Und diese Emotion ist nicht nur gesellschaftlich verpönt, auch die Medizin warnt immer wieder, dass ständiger Ärger dem Herzen zusetzt, das Schlaganfallrisiko erhöht oder bei Depressiven die Prognose verschlechtert.
Dabei gehört die Ärger-Emotion zum Homo sapiens wie Freude oder Angst. „Gerade die negativen Emotionen sind oft überlebenswichtig“, erklärt George Vaillant von der University of Harvard. Dass Ärger durchaus einen Sinn hat, zeigt sich daran, dass es in westlichen Gesellschaften häufig vorkommende Erbanlagen gibt, die dafür prädisponieren. Martin Reuter, Psychologe an der Universität Bonn, hat beispielsweise das Gen DARPP-32 aufgetan.
Bestimmte Varianten davon kommen gehäuft bei Menschen vor, die einen hohen Wutpegel haben. Das Gen reguliert den Botenstoff Dopamin im Gehirn, der eine Rolle bei Ärger und Aggression spielt. „Natürlich ist ständiger Ärger gesellschaftlich nicht erwünscht, aber dominantes Verhalten hilft, sich in der sozialen Hierarchie durchzusetzen“, sagt Reuter, der selbst solch eine Wutvariante im Erbgut trägt.
Ärger in Maßen hat jedoch auch noch weitere Vorteile. Diese Gefühlsregung tritt bereits bei Babys und Kleinkindern auf und ist beispielsweise wichtig, um sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Ärger ist auch eine Antriebskraft: „Die Emotion drängt uns, Dinge zu verändern“, sagt Maria von Salisch, Psychologin an der Leuphana Universität Lüneburg. Wut steigert zudem das Selbstwertgefühl.
Immer schön fluchen
Auch seiner Wut Luft zu machen, etwa als Fluchtirade, ist sinnvoll, da es entlastet. Verkehrspsychologen raten darum, beim Autofahren zu schimpfen, wenn man sich über andere Verkehrsteilnehmer ärgert. Kernspin-Untersuchungen haben ergeben, dass das Bedürfnis zu fluchen sehr tief in der Architektur des menschlichen Gehirns verankert ist. Mit Schimpftiraden halten Menschen auch Schmerzen besser aus.
Menschen, die ständig wegen geringsten Ärgernissen aus der Fassung geraten, wie einst das HB-Männchen im Werbefernsehen, sollten hinterfragen, was den Ärger auslöst, und sich in Gelassenheit üben – allerdings ist das nicht so leicht, da die Ärgeremotion vom autonomen Nervensystem gesteuert wird.
Maria von Salisch erklärt die Grenze zwischen gesundem und ungesundem Ärger so: „Wenn regelmäßig wegen jeder Kleinigkeit Wutanfälle auftreten und dann auch noch lange mit dem Vorfall gehadert wird, ist das negativ zu bewerten“. Rund fünf Prozent aller Kinder und Erwachsenen zeigen solch ein extremes und klinisch auffälliges Ärgerniveau. Trotzdem wird in keinem psychologischen Handbuch „cholerisch“ als Diagnose angeführt.
Auf Streit folgt Frieden
Sich in Ruhe zu üben, ist vor allem in der Erziehung wichtig. Wenn Kinder ständig und wegen jeder Lappalie angebrüllt werden, erschrecken, fürchten und schämen sie sich. „Die betroffenen Kinder sind zudem in ständiger Alarmbereitschaft, was ihnen Energien für andere Dinge raubt“, so von Salisch. Geraten Eltern trotzdem leicht aus der Fassung, sollten sie wenigstens immer nach einem Streit Frieden mit den Kindern schließen.
Schon bei Babys gibt es ein sogenanntes Ärgertemperament, das mit einer Variante im Fyn-Gen einhergeht, wie Eric Mick von der Massachusetts Medical School im vergangenen Februar in einer Studie mit knapp 9.000 Probanden belegte. Das Gen kodiert für ein Enzym, das den Kalzium-Flux in Nervenzellen reguliert. Die intrazelluläre Kalzium-Homöostase ist wichtig für Gedächtnis, Lernen und neuronales Überleben.
Bei diesem Temperament geraten die Neugeborenen schnell aus der Fassung und können sich nur schwer beruhigen. „Es wird debattiert, ob das eine genetische Veranlagung ist oder nicht vielmehr von widrigen Erlebnissen im Mutterleib stammt“, erklärt die Lüneburger Wissenschaftlerin. Zudem sind solche Veranlagungen keineswegs unveränderlich. „Auch diese Kinder können es lernen, sich zu regulieren“, so von Salisch.
Erhöhtes Infarktrisiko
Lernen sie es nicht, sind die Betroffenen tatsächlich im Erwachsenenalter häufiger von Herzkrankheiten betroffen. So hat kürzlich die Arbeitsgruppe um Murray Mittleman, Herzspezialist an der Harvard School of Public Health, in einer Meta-Analyse belegt, dass häufige Wutausbrüche bei Menschen mit bereits vorgeschädigten Koronararterien die Gefahr für einen akuten Herzinfarkt innerhalb der folgenden zwei Stunden um nahezu das Fünffache erhöhen. Das Schlaganfallrisiko war um das Dreifache höher. Der mögliche Mechanismus dabei: Ärger ist psychosozialer Stress, er treibt Adrenalin und Cortisol und damit Herzfrequenz und Blutdruck in die Höhe, zudem bilden sich leichter Blutgerinnsel und Entzündungsprozesse werden angefacht.
Von einem Ärger-Management-Kurs für Betroffene hält Mittleman jedoch wenig: „Ärger für sich zu behandeln ist wenig erfolgreich. Bei solchen Risikopersonen ist eher eine weitreichende Behandlung des mentalen Stresses wichtig.“ Ausdauersport reduziert beispielsweise Stresshormone. Doch auch das Gegenteil von hemmungslosen Ärgerattacken, zwanghaftes Positivdenken sehen Forscher wie Vaillant skeptisch. Denn: Wer ständig Wut im Bauch unterdrückt oder weglächelt, wird oft zynisch, verletzt Menschen mit Worten oder kann sogar Schlaf- und Essstörungen entwickeln.
In der Harvard Study of Adult Development aus dem Jahr 2009 zeigte der US-Wissenschaftler: Wer seine Frustrationen für sich behält, ist dreimal häufiger enttäuscht vom eigenen Leben. Und die österreichische Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner beschreibt in ihrem Buch „Wut Plädoyer für ein verpöntes Gefühl“, das im kommenden Oktober erscheint, dass sich ein lange zurückgehaltener Wutstau sogar in einer Gewalttat entladen kann.
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