Wirtschaftskrise in der Türkei: Wenn das Geld schmilzt
Die türkische Lira stürzt ab. In der Istanbuler Altstadt macht sich die Angst breit und die ganze Türkei starrt gebannt auf die Kursentwicklungen.
Auf den Straßen von Eminönü herrscht rege Betriebsamkeit. Istanbuler*innen und unzählige Tourist*innen, vor allem aus arabischen Ländern, verstopfen die engen Straßen, Eisverkäufer, Parfümhändler, Ladeninhaber*innen sind auf Kundenjagd. Das historische Viertel in der Altstadt ist ein pulsierendes Handelszentrum mit unzähligen Einzel- und Großhandelsbetrieben. Und es ist ein Seismograf für die Krise, die über die Türkei hereingebrochen ist.
In einem großen, aber ziemlich leeren Geschäft für Dessous, Unterwäsche und Socken steht der Inhaber an der Kasse und plauscht mit dem Nachbarn. Missmutig reden sie über den Dollar, über Gold und die USA. „Die Leute sind am Ende!“, klagt der Nachbar Mehmet Kahraman. „Unser Kapital ist um 60 Prozent abgewertet! So einfach ist das. Wo wir früher 100 Lira hatten, haben wir jetzt nur noch 40!“
Kahraman, ein Mann Mitte 40 mit schütterem grauem Haar, produziert und verkauft Gummibänder. Polyester-Latex-Garn, den Rohstoff dafür muss er mit Dollar bezahlen, was er produziert, verkauft er auf dem heimischen Markt gegen türkische Lira. Kahraman, der Außenstände in der einheimischen Währung hat, ist wütend über die Abwertung seines Geldes: „Alle haben in Lira ausgestellte langfristige Wechsel in Händen, die sind jetzt nur noch Altpapier. Wir gehen alle pleite und drehen obendrein noch durch.“
Seit Jahresbeginn ist die Lira gegenüber dem US-Dollar um nahezu 50 Prozent abgestürzt, Ähnliches gilt für den Euro. Am vergangenen Freitag ging die Lira in den freien Fall über: An einem einzigen Tag verlor sie 15 Prozent an Wert. Am Montag bremsten die Maßnahmen der Zentralbank den Währungscrash ein wenig aus, am Dienstag erholte sich der Kurs. Aber stabil ist der Markt noch lange nicht.
Starren auf die Kurse
„Wir haben keine Ahnung, wie es weitergeht“, klagt Kahraman. „Niemand weiß, was morgen sein wird, und wenn du die Preise nicht kennst, kannst du deine Waren nicht verkaufen.“ Bei einigen Händlern in Eminönü liegt der Handel aufgrund der Devisenschwankungen im Augenblick auf Eis.
Der Geschäftsinhaber des Wäschegeschäfts, der auch Rohstoffe aus dem Ausland gegen Devisen importiert, verschränkt die Hände hinter dem Kopf, lehnt sich zurück und erzählt, er habe irgendwann aufgehört, auf die Kurse zu starren, das habe ihn nur fertiggemacht. „Nächste Woche wird das Opferfest gefeiert“, sagt er und zeigt auf seinen 300-Quadratmeter-Laden. „Die Leute in der Türkei lieben Shopping vor den Feiertagen, aber schaut nur: gähnende Leere!“ Zwischen den bunten Socken und Stapeln mit Dessousschachteln ringsum sind nur Angestellte in blauen T-Shirts zu sehen, Kund*innen gibt es praktisch keine.
Der Wäschehändler möchte keinen Ärger, weshalb er seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Aus dem Innenministerium hieß es am Montag: „Gegen 346 Accounts in den sozialen Medien, die sich provokativ über den Dollarkurs geäußert haben, wurden rechtliche Schritte eingeleitet.“ Neun Zeitungen der zu 90 Prozent unter Regierungskontrolle stehenden türkischen Presse brachten Erdoğans Spruch „Wir haben euer Spiel durchschaut, wir bieten euch die Stirn“ auf der Titelseite.
Wie bei vorangegangenen Krisen hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Ursache für die Krise auch diesmal wieder im Ausland entdeckt. Es handele sich um ein „Szenario ausländischer Kräfte gegen die Türkei“, sagte er. Er hält dagegen: „Wenn die ihren Dollar haben, haben wir unseren Allah.“ Am Dienstag rief Erdoğan zum Boykott von Elektronikartikel aus den USA auf: „Wenn sie das iPhone haben, gibt es anderswo Samsung“, warb er im Fernsehen für koreanische Handys.
Erst Tweet, dann Absturz
Die USA fordern die Freilassung des seit gut zwanzig Monaten in der Türkei festgehaltenen Pastors Brunson und weiterer US-Staatsbürger*innen und froren als erstes Druckmittel das Vermögen von zwei türkischen Ministern in den USA ein. Am vergangenen Freitag erklärte US-Präsident Trump dann in einem Tweet, er habe der Verdoppelung der Importzölle auf Aluminium und Stahl aus der Türkei zugestimmt.
Beide Aktionen haben eher symbolischen Charakter: Ob die Minister überhaupt Geld auf US-Konten besitzen, ist unklar, und der Export von Aluminium und Stahl ist eher marginal. Doch die politische Zuspitzung der Krise führte zum Absturz der türkischen Lira und zum Einbruch der ohnehin fragilen türkischen Wirtschaft.
Yalçın Karatepe, Wirtschaftsprofessor an der Uni Ankara, sagt: „Der Verfall der türkischen Lira wird sich auf das Leben von uns allen auswirken, das ist unvermeidbar.“ Er geht davon aus, dass die Menschen insbesondere die Inflation zu spüren bekommen werden. Die Preise dürften rasant steigen, wodurch Kaufkraft und Wohlstandsniveau zurückgehen werden. Dann werde es bei Unternehmen zu Entlassungen kommen, wodurch eine Zunahme der Arbeitslosigkeit drohe.
Südlich von Eminönü, im Großen Basar in Beyazıd, betreibt Mahsun Aslan ein kleines Café. Er beklagt den Anstieg der Preise von Kaffee und Zitronen und der Miete aufgrund der Inflation. Seines Erachtens wirkt es sich negativ auf den Markt aus, dass Erdoğan sich starrsinnig mit der ganzen Welt überworfen hat. Glaubt Aslan, dass die Leute sich irgendwie dagegen wehren können? Kaum, sagt er: „Tränengas haben wir ja früher hingenommen, aber heute kommt man ins Gefängnis.“
Die fetten Jahre sind vorbei
In vielen anderen Betrieben im Großen Basar laufen die Geschäfte dagegen etwas besser als im Vorjahr. Als zu den diplomatischen Krisen mit Russland vor drei Jahren und vor einem Jahr mit Deutschland noch die Terroranschläge ins Land kamen, herrschte Flaute im Tourismus. Viele Geschäfte mussten schließen, inzwischen sind sie durch neue ersetzt.
Der 49-jährige Yavuz Özdemir verkauft seit mehr als 30 Jahren Teppiche im Basar. Die Geschäfte liefen relativ gut, sagt er, aber „die guten alten Tage“ seien dahin. Den Grund dafür sieht er im Rückgang des Tourismus aus dem Westen: „Die besten Teppichkunden sind Leute aus Europa und Amerika, aber jetzt versuchen wir uns mit Kundschaft aus Indien, Pakistan und den arabischen Ländern über Wasser zu halten.“ Özdemir denkt, dass die Politik der Türkei zu wenig auf den Westen ausgerichtet sei. „Touristen mit Bewusstsein“ würden nicht in ein Land ohne Freiheit kommen und die dortige Wirtschaft unterstützen.
Der steigende Dollarkurs wirke sich positiv auf seine Geschäfte aus, erzählt Özdemir. Er wickelt seine Verkäufe in Dollar ab, weshalb er zu den Gewinnern der Krise gehört. Dennoch betont er, wie wichtig Tourist*innen aus dem Westen für das Land und für die hiesigen Geschäfte seien, und sagt: „Ich bin in Sorge um mein Land.“
Neben dem harschen Absturz der Währung verlor am Montag an der Börse auch der Bankensektor rund 10 Prozent an Wert. In Schwierigkeiten steckt, wer Schulden in Devisen hat, denn diese haben sich angesichts der schwindsüchtigen Lira drastisch erhöht.
Angst vor Arbeitslosigkeit
In der Nähe einer Wechselstube in Eminönü, vor der die Leute Schlange stehen, sitzt Naciye Şen mit ihrer Mutter in einem Teegarten. Auch sie ist besorgt. Sie arbeitet in einem Inkassobüro, das notleidende Kredite von Banken aufkauft und dann einzutreiben versucht. Es werde nun noch schwieriger werden, diese Schulden einzutreiben, sagt sie, und: „Wenn die Banken kollabieren, machen auch wir bankrott.“ Sie fürchtet um ihren Arbeitsplatz. Şen macht US-Präsident Donald Trump für die Misere verantwortlich, auch wenn Erdoğan eine gewisse Mitschuld treffe: „Er muss sich ja auch nicht so aufspielen, denn wenn er so große Töne spuckt, geht der Dollar durch die Decke.“
Überall in der Stadt hört man Leute besorgt über den Dollar reden. Die Wechselstuben kaufen Devisen billig an und verkaufen sie teuer. Bei manchen gehen die Rollläden noch vor dem Abend herunter, umso länger werden die Schlangen vor anderen. Die Leute kaufen und verkaufen Dollar dort, wo es für sie am günstigsten ist. Passanten fotografieren unablässig die Kursanzeigen.
In einer schmalen Gasse studieren zwei Männer die Kursanzeigen. Immer wieder überprüfen sie den Kurs mit ihren Handys und rechnen hin und her. Der Jüngere, Mehmet Seferi, hat die Schlaufe seiner blauen Handgelenktasche über den Arm gestreift, er ist unschlüssig: „Wir besitzen ein paar Devisen und überlegen die ganze Zeit, ob wir sie lieber behalten oder verkaufen sollen.“
Er trägt die Haare oben lang, den Rest kurz geschoren, wie es bei jungen Männern in der Türkei Mode ist. „Natürlich hat das Rauf und Runter bei den Devisen auch auf uns Auswirkungen“, sagt Seferi. Er betreibt mit seinem Vater einen Telefonladen mit Handyzubehör und dürfte Erdoğans Boykottaufruf gegen US-Elektronikartikel bald zu spüren bekommen. Ihre Waren kommen aus dem Ausland, sie werden immer teurer. „Es ist besorgniserregend, nicht zu wissen, zu welchem Preis man ein Produkt nächste Woche verkaufen kann“, sagt Seferi.
Wird Erdoğan diese Krise durchstehen?
Seferi war fünf Jahre alt, als Erdoğans Partei „Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) 2002 an die Regierung kam. Einen Zusammenhang zwischen der Wirtschaftspolitik des Präsidenten und der aktuellen Wechselkurskrise sieht er nicht. „Wir wissen, dass die Gründe dafür nicht in seinen Händen liegen.“
Zu erwarten ist, dass die meisten Menschen den Verfall der türkischen Lira erst in den nächsten Monaten so richtig zu spüren bekommen werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Karatepe sagt zwar, zur Behebung des Problems brauche die Wirtschaft zunächst einmal korrekte Diagnosen. Allerdings ist er da wenig optimistisch: „In den Verlautbarungen geht es weiterhin nur um Kraftmeierei. Da heißt es, es handele sich um eine gegen die Türkei gerichtete Operation.“
Aykut Erdoğdu ist Vize-Vorsitzender der sozialdemokratischen CHP, die als Oppositionsführerin kritisiert, dass die AKP sich ständig hinter der Ausrede verschanze, man habe es mit „ausländischen Kräften“ zu tun. In den sozialen Medien postete er: „Wer die Türkei an den Rand der Pleite treibt, hat kein Recht, über ‚ausländische Kräfte‘ zu jammern.“ Allerdings spricht sich im Land die Mehrheit dafür aus, sich gegen die USA zu stellen.
Ökonomen hatten die Krise der türkischen Wirtschaft, die seit Langem als fragil gilt und deren Kreditnote laufend herabgestuft wurde, längst erwartet. In einem Artikel für die New York Times führt der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman die Krise in der Türkei darauf zurück, dass das Land über lange Zeit Schulden in Fremdwährungen aufnahm, dann die Schulden nicht mehr zurückzahlen konnte und keine neuen Kredite mehr bekam. „Es ist relativ irrelevant, was zum ‚plötzlichen Stopp‘ von Krediten aus dem Ausland geführt hat. Das könnten innere Entwicklungen sein wie die, dass die Wirtschaft dem Schwiegersohn unterstellt wurde, oder auch die Erhöhung der US-Zinsen“, schreibt Krugman.
Telefonhändler Hayrullah Seferi, der mit seinem Sohn vor der Wechselstube steht, erinnert daran, dass Erdoğan im Laufe seiner 16 Regierungsjahre aus allen Krisen stets gestärkt hervorging. Er sei sich allerdings nicht sicher, ob auch die aktuelle Krise so ausgehen wird. Vater und Sohn Seferi versuchen mit den Augen abwechselnd am Kursmonitor und zum Abgleich am Handy einzuschätzen, wie sich der Dollarkurs entwickeln wird. Ebenso gebannt wie sie verfolgt die ganze Türkei seit Tagen den Dollarkurs.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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