Wirtschaftsexperte über Krise in Türkei: „Die Löhne werden fallen“
Die türkische Währung hat dramatisch an Wert verloren. Höhere Preise und mehr Arbeitslosigkeit würden folgen, sagt Wirtschaftsexperte Bariş Soydan.
taz: Herr Soydan, was sind die Gründe für den Verfall der türkischen Lira? Ist Donald Trump schuld? Können Sie die Krise erklären?
Bariş Soydan: Es gibt zwei Gründe. Einerseits liegt das am Konflikt mit den USA um den in der Türkei unter Hausarrest stehenden Pastor Brunson. Auf der anderen Seite sorgen die negative Leistungsbilanz und die Inflation zu dem Verfall der Lira. Die negative Leistungsbilanz in der Türkei beträgt circa 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Alle wissen, dass wir versuchen, diese Bilanz mit Krediten aus dem Ausland zu finanzieren. Und darauf kommen dann noch die 337 Milliarden Dollar hohen Schulden aus dem privaten Sektor hinzu. Hinter der negativen Bilanz und der Inflation findet man eine überhitzte Wirtschaft. Gäbe es diese strukturellen Probleme nicht, hätte die Brunson-Krise mit den USA allein nicht dazu geführt, dass die Lira so weit sinkt.
Was erwartet die türkische Wirtschaft jetzt?
Ich hoffe, dass die Krise um den Pastor Brunson gelöst wird. Oder sagen wir, ich will es hoffen. Es bleiben aber die strukturellen Probleme. Um das Leistungsdefizit und die Inflation zu senken, muss die Wirtschaft „abkühlen“. Das bedeutet, Steuersenkungen müssen beseitigt und öffentliche Ausgaben gekürzt werden. Außerdem würden in diesem Fall leider auch Kürzungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit folgen. Kann die Regierung das bis zu den Kommunalwahlen im März 2019 in Kauf nehmen? Schwierig.
Barış Soydan, 52, ist Wirtschaftsexperte und Journalist. 1994 gehörte er zu den Gründern der Zeitschrift Express, außerdem war er Chef der Wirtschaftszeitschriften Turkishtime und Power.
Auch die europäischen und US-Börsen sind von der sinkenden Lira betroffen. Wie beurteilen Sie das?
Dahinter steckt ein tiefergehendes Problem. Um zu verhindern, dass sich die US-amerikanische Krise von 2008 in eine ähnliche Krise wie die von 1929 verwandelte, folgten ein niedriges Zinsniveau und eine Billiggeldpolitik. Jetzt werden die Zinsen langsam wieder angehoben. Während der Phase des billigen Geldes war die Türkei unter den Ländern, die günstig Geld aus den USA bekommen haben, ein Teil davon kommt jetzt wieder zurück in die heimische Wirtschaft. Daher ist nicht nur die Türkei, sondern es sind alle Schwellenländer von der Krise betroffen.
Wie bewerten Sie die Worte der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die für eine prosperierende Türkei geworben hat?
Die EU und die USA haben verschiedene Ansichten. Das zeigt sich daran, dass Deutschland Interesse daran bekundet hat, die Türkei nicht in die Instabilität ziehen zu lassen. Die EU hat Angst davor, dass die Instabilität in der Türkei sie selbst sowohl politisch als auch ökonomisch trifft. Letztlich konnte man die Erschütterung in der Türkei auch auf den europäischen Märkten spüren. Die Mitteilung der deutschen Regierung zeigt, dass starke Handelsbeziehungen zwischen Europa und der Türkei bestehen. Fast die Hälfte der türkischen Exporte geht nach Europa. Auch für Deutschland ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner.
Wie wird sich der Verlust der Lira auf das Leben der Bevölkerung auswirken?
Mit Preisanhebungen, neuen Steuern und Arbeitslosigkeit. Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, dass speziell die Preise der Importprodukte massiv steigen werden. Wir werden nicht mehr das neueste iPhone in den Händen aller Menschen sehen. Es scheint unumgänglich, dass die Arbeitslosigkeit abrupt steigen wird. Wenn sich der Kurs nicht stabilisiert, könnte die Inflation bis auf 30 Prozent ansteigen. Das bedeutet, dass die realen Löhne in nur einem Jahr um 10 bis 20 Prozent fallen. Diese Entwicklung könnte gewerkschaftliche Aktionen lostreten.
Aus dem Türkischen von Cem Bozdoğan