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„Wir müssen alle verdammt wach sein!“

■ Der Hamburger Kabel-Verlag publiziert jetzt John Sacks umstrittenen Oral History-Roman „Auge um Auge“

Auge um Auge heißt das Buch des amerikanischen Autors John Sack, in dem er von Greueltaten berichtet, die ehemalige KZ-Häftlinge nach Kriegsende an ihren Peinigern verübten. Der renommierte Reporter – der selbst Jude ist – schrieb die Geschichte auf, die die Jüdin Lola Potok ihm erzählte: Sie entkam einem KZ, in dem zehn ihrer Angehörigen ermordet wurden, darunter ihr einjähriges Kind. 1945 wurde sie dann als Kommandantin eines vom polnischen Sicherheitsdienst eingerichteten Gefängnisses in Gleiwitz eingesetzt, und dort versuchte sie einige Zeit, sich an den internierten Deutschen zu rächen. Sack recherchierte sieben Jahre lang und fand ähnliche Fälle in anderen Lagern in Oberschlesien, in denen Juden als Offiziere des kommunistischen staatlichen Sicherheitsdienstes eingesetzt wurden.

Der Piper Verlag zog die Veröffentlichung von Auge um Auge im letzten Moment zurück, nachdem einige deutsche Kritiker (Frankfurter Rundschau: „Antisemitische Rohkost“) das Buch kritisiert hatten. Jetzt hat der Hamburger Kabel Verlag das in Kürze erscheinende Werk übernommen. Die taz sprach mit einem der beiden Verlagsleiter, Joachim Jessen.

taz: Was war Ihre Motivation, das Buch auf den deutschen Markt zu bringen?

Joachim Jessen: Unsere Motivation liegt schon weit zurück, denn als das Buch von Basic Books in New York angeboten wurde, habe ich mich auch schon um dieses Buch bemüht. Ich wollte es mir anschauen, aber dann hat Piper es bekommen. Als Piper es jetzt niederlegte, habe ich mich darum gekümmert und wir haben beschlossen, dieses Buch herauszubringen.

Wir haben allerdings den Untertitel nicht übernommen – „Opfer des Holocaust als Täter“, das finde ich ehrlich gesagt relativ instinktlos, wenn ich das mal so sagen darf. Unser Untertitel lautet: „Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten“.

Wie wird diese Rache in dem Buch geschildert?

Herr Sack beschreibt auf den ersten Seiten, wie es in einem KZ zugegangen ist. Und er schreibt später, was 1945 in den polnischen Kriegsgefangenenlagern passierte und wie einige Leute versucht haben, das zu kopieren, was ihnen während des Krieges angetan worden ist. Aber das waren nur Ansätze von Rache. Weder hat einer dieser Juden, der in diesen Lagern gearbeitet hat, die Menschen in Duschräume geführt und vergast, noch sind Menschen verbrannt worden.

Einige der Deutschen sind gewissen Torturen ausgesetzt worden, das ist richtig. Aber wenn ich das einordnen muß – und das werden viele Leser können – dann verstehe ich, daß Menschen, nachdem ihnen Schreckliches angetan worden ist, versucht haben, zunächst den Weg der Rache zu gehen.

Einzelschicksale führen die Menschen dazu, etwas zu begreifen

Ist es eher ein Sachbuch – oder eher ein Roman?

Es ist total historisch. Die Leute haben John Sack ihre Geschichte erzählt, und die hat er in einer erzählenden Weise aufgeschrieben. Dann hat er diesen Geschichten eine Dokumentationsfolie gegeben. Ohne den Dokumentationsteil wüßten Sie nicht, ob es ein Roman ist oder nicht. Durch den Anhang aber bekommt es historischen Charakter, obwohl es starke erzählende Momente hat.

In dem kolossalen Anhang sind historische Quellen und Informationen verzeichnet. Stimmen denn die Fakten in „Auge um Auge“?

Sowohl die amerikanische Fernsehsendung 60 Minutes hat das nachrecherchiert wie auch die Zeit, die einen Auszug abdrucken wollte und es dann nicht gewagt hat, als auch der Spiegel. Die fanden alles im Bundesarchiv dokumentiert.

Manche Kritiker monieren den Stil des Buches. Sie sehen in Sacks Bemühungen um Authentizität, in seinen eindringlich geschilderten Gewaltszenen, „sadistischen Sensationsjournalismus“. Warum halten Sie es dennoch für richtig, dieses Dokument in Form eines Oral-History-Romans zu publizieren?

Wenn wir alles nur in eine distanzierte historische Betrachtungsweise füllen, dann stockt die Aufarbeitung bei vielen Menschen, weil sie die historischen Bücher gar nicht lesen. Und das hat dann solche furchtbaren Geburten wie den Historikerstreit zur Folge und den Unsinn, den Herr Nolte erzählt. Das Thema wird immer mehr verkopft, das ist eine Schraube ohne Ende.

Erinnern Sie sich an die Holocaust-Serie, die die ARD in den siebziger Jahren ausstrahlte? Die gleiche Frage wurde damals in den Zeitungen diskutiert: Kann man den Holocaust so darstellen? Da haben Leute angerufen bei der ARD und geweint und gesagt: Das haben wir ja so gar nicht gewußt!

Es sind immer Einzelschicksale, die den Menschen hinführen, etwas zu begreifen.

Außerdem ist es doch abstrus: Wenn Anna Wimschneider ihre Geschichte als Landarbeitsfrau aufschreibt, dann lieben die Leute Oral History. Natürlich ist John Sacks Buch kein historisches Werk in dem Sinne, wie bei uns die Zeit des Dritten Reiches aufgearbeitet wird. Der Mann, der diese Geschichte aufschrieb, ist Reporter.

Schneidet man den Juden nicht auch ihre Geschichte ab?

Einige Kritiker haben das Werk stark kritisiert. Die Frankfurter Rundschau bezeichnete es als „Antisemitische Rohkost“. Kann das Buch mißverstanden werden? Und wie wollen Sie derartige Mißverständnisse auffangen?

Ich denke, man kann das nicht auffangen, weil man im Leben nicht alles kontrollieren kann. Natürlich werden diese Ewiggestrigen und Unbelehrbaren sagen: „Ach, haben wir doch gleich gesagt: Das war ja alles nicht ohne Grund!“ Aber soll denn über etwas nicht gesprochen werden, nur weil einige Leute das in ihren Schädel nicht reinkriegen?

Ich kann zwar nachvollziehen, daß man eine Wut hat auf die Relativierer oder diejenigen, die sagen, das hätte alles nicht stattgefunden. Aber man muß doch auf diese Menschen nicht so viel Rücksicht nehmen. Ich habe keine Lust, auf Herrn Frey und seine Idioten Rücksicht zu nehmen, nur weil sie das Buch mißbrauchen könnten. Das hält doch den Prozeß der Aufarbeitung dessen, was in diesem Jahrhundert Menschen Menschen angetan haben, wirklich auf.

Wieso kommen Menschen anhand des umstrittenen Buches überhaupt auf die Frage, ob die Racheakte der Juden nach Kriegsende mit den Massenmorden der Deutschen vergleichbar sind?

Das verstehe ich überhaupt nicht. Der Autor sagt ganz klar, daß das nicht vergleichbar ist. Er ist ja auch kein dummer Mann. Aber es ist ja schon schlimm, daß man überhaupt darauf hinweisen muß, daß diese Taten nicht vergleichbar sind. Was ist das überhaupt für ein Denken: Die SS-Leute haben Menschen aus angeblich abstrakten Gründen gequält. Die Juden, die dann diese Racheakte vorgenommen haben, hatten handfeste Gründe. Da kann man doch nicht im Rückschluß sagen: „Also wenn die das auch gemacht haben, dann sind die doch auch nicht besser.“

Aber es ist doch so: Schneidet man den Juden nicht auch ihre Geschichte ab, wenn man sie nur – wie Seligmann es formuliert – als Opfer darstellt? Sind die denn ohne Fleisch und Blut? Sind die denn ohne Empfinden?

Was wollen Sie mit dem Buch bewirken?

Ich habe letztens einen Anruf bekommen von einem pensionierten Lehrer, der hat als vierzehnjähriger in vieren dieser polnischen Kriegsgefangenenlager gesessen. Und der hat mir zum Beispiel erklärt, daß er überhaupt nicht an eine Relativierung denkt, aber daß er Zeit seines Lebens daran erstickt ist, daß er nicht darüber sprechen durfte. Denn dann hätte man ihn sofort in die Kiste „Nazi-Verbrecher“ gesteckt. Ich frage mich: Was kann ein 14-jähriger damals verbrochen haben?

Bin ich ein potentieller Massenmörder? Bin ich verführbar?

Dieser Mann ist sich sehr wohl bewußt darüber, was Deutschland den Juden angetan hat, er weiß ganz genau, was industrielle Tötung von Menschen ist. Und dennoch ist ihm ganz persönlich etwas passiert, und darüber darf er nicht sprechen. Er erstickt daran. Und ich finde es immer furchtbar, wenn Menschen ersticken.

Was für eine Diskussion erhoffen Sie sich von dem Buch?

Für mich ist mit einem solchen Buch immer die Frage der eigenen Überprüfung verknüpft: Bin ich ein potentieller Massenmörder? Bin ich verführbar? Uns wie weit bin ich verführbar? Und sehe ich bei meiner Verführbarkeit nicht, welches Leid Menschen angetan werden kann?

Mir hat unheimlich gut gefallen, was Tom Segev dazu geäußert hat. Was hier passiert ist, muß zu einer Chiffre werden für Menschen: daß dieses möglich ist. Wir müssen alle verdammt wach sein, damit nie wieder Leute und Völker stigmatisiert werden. Und dazu gehört eben nicht, daß wir steuern, was Menschen lesen oder nicht lesen dürfen. Sondern wir müssen uns bei klarem Bewußtsein ansehen, wie Menschen in die Ecke gedrängt werden.

Was sagt denn John Sack zur gegenwärtigen Diskussion der Nazi-Verbrechen in der BRD?

Sack sagt dazu, daß er als Amerikaner nicht jede Sensibilität teilt, die die Deutschen verspüren. Daß er als amerikanischer Jude über das Thema aus amerikanischer Sicht geschrieben hat. Aber – und das ist meine Meinung dazu – viele Sensibilitäten, die er da noch nicht gespürt hat, lassen ihn direkter auf das Thema zugehen und sagen: Das ist auch passiert.

Und es ist doch auch vorstellbar und darf doch auch diskutiert werden, ob diese bei uns herrschende „Übersensibilität“ nicht auch ein ziemlich geeignetes Mittel ist, das Thema des Dritten Reiches insgesamt nicht aufkommen zu lassen.

Wann wird „Auge um Auge“ erscheinen?

Das Buch wird Ende April in den Buchhandlungen liegen.

Fragen: Gabriele Wittmann

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