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Wir lassen lesenGesamtheribert naht

■ Erster von 93 Bänden erschienen: Endlich verstehen wir das harte Reporterleben

Schon das grandiose Cover! Da steht dieser HF, dokumentargezeichnet mit geballter Faust links, dem Headset über dem Bart und der Rechten stramm aufrecht zeigend. Ist das Lenin, gar Hitler? Nein, schlimmer: Es ist Heribert Faßbender. Hat man darauf gewartet? Auf die HFGA, die kritisch-historische Heribert-Faßbender-Gesamtausgabe, die nun mit Band 5 aus der Werkgruppe IX („Die Länder-Turniere der neunziger Jahre“) uns ihr erstes ×uvre entgegenkotzt? Wir wissen: Das Mikrophänomen HF wird gehaßt und lebenslang verhöhnt von wirklich allen quer durch alle Fußballsozialisationsformen, selbst von Kollegen gefürchtet und verlacht. Es gibt Hinweise aus dem Therapeuten- und Sadomilieu im Heimatort Leverkusen-Opladen, daß sich der Arme sogar selbst haßt. Als Kranker reportierte er schon, vermutlich wird er auch als Toter einmal weitersprechen. Gut, daß da jemand sich seiner Biographie annimmt, ihn seziert.

Die Optik. Jede der gut zwei Dutzend Dokumentarzeichnungen von Wolfgang Herrndorf ist schöner als alle Gegentore der Nationalmannschaft und sagt mehr als tausend vergilbte Fotos: Faßbenders erste Kindheit, seine zweite Oma, die letzte Schultüte, später – was manchen überraschen mag – gemeinsam mit Hans Mentz und Walter Ulbricht, dann meditierend am Pool und mit Badelatschen vor Porsche: bislang ungesehene Miniaturen eines viel zu oft gesehenen Mannes.

Der Historiker Roth arbeitet in diesem ersten Band der bis 2006 auf 93 Bände konzipierten Reihe mit kommagenauer Dokumentation: Hier ist es die Reportage des EM-Spiels Deutschland–Italien (nullnull) vom 19. Juni 1996. Dazu eine Vita („galt als schwieriges Kind“, „heimliche Lektüre des schmalen Bändchens ,So werde ich Rudi Michel‘“) und ein elegantes Konvolut von Vor- und Nachbemerkungen über Zitationsregeln, Dokumentensicherung und Editionsprinzipien.

Wort für Wort lesen wir die Reportage des unrasierten Karpfens nach. Wie kurios so eine Abschrift wirkt, wie blöd, wie albern: „53.740 Besucher in Old Trafford, aber noch kein Tor.“ Nichtssagend? Aber, aber: 320 Fußnoten sind zusammengekommen – Hinweise auf Faßbenders früheres Schaffen, auf wichtige forscherische Zusammenhänge. Autor Roth tut sich sogar als Seher hervor. Ausgerechnet Thomas Strunz („ein Racker und Hacker“) bekommt bei jeder Erwähnung eine Fußnote. Der auf Seite 49 nach dem HF-Satz „Und erster Ballkontakt für Thomas Strunz“ lautet: „Von dem man noch hören wird.“ Tja.

Fragen bleiben: Warum spricht HF, bei Roth nicht diskutiert, seit Mazzola-Zeiten von der inexistenten „Lega nacionale“ (zudem mit iberischem Lispellaut), ersatzweise und nur selten teilfalsch von der „Seria A“ (Seite 99, wo Roth et al. fahrlässig nicht gegengeißeln), obwohl es nur eine schlichte Serie A gibt. Warum lästert, stichelt HF immer gegen die tutti azzurri Stiefelmenschen, zuletzt bei Inter–Schalke: „Boninsegna, der dem Luggi Müller, und ich bleibe dabei: vorsätzlich!, das Bein brach damals in Berlin...“? Warum ist HF noch italophober als wir alle faßbenderophob? Nur weil ihm jener Papagallorazzo damals (ca. 1961) in Ravenna die einzige Frau, die je seinen Bart kraulte, so jäh entriß?

So viel wollen wir noch wissen. Gegen dieses Buch wird Jurist Faßbender sicher wieder Klage androhen – wie zuletzt gegen das Reportage-Lehrbuch „So werde ich Heribert Faßbender“. Dabei ist dieses neue Werk der jungen Frankfurter Schule verlagsinterne Gegendarstellung und Widerruf in einem: So wie HF kann nie wieder je irgendeiner werden. Bernd Müllender

Jürgen Roth/Wolfgang Herrndorf (Hg.): „Heribert Faßbender. Gesammelte Werke, Band IX/5. Europameisterschaft 1996: Italien–Deutschland“. Klartext Essen, broschierte Originalsprache, 128 Seiten, 19,80DM

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