Wir lassen lesen: Liebe, Leidenschaft und der Matsch des Galibier
■ Wie ein richtiger Roman: Ein Tour-de- France-Buch über Giganten der Frühzeit
Blanc-Mesnil zahlt für die Liebe mit seinem Gelben Trikot. Die rauschende Nacht mit einer vom gegnerischen Rennstall angeheuerten Profihure besorgt ihm am folgenden Renntag müde Beine. Aussichtslos fällt der Jan Ullrich der frühen Tour-Jahre im Gesamtklassement zurück. Dagegen treibt seinen Teamgefährten die Liebe zum Tour-de-France- Sieg: Die imponierende Aussicht, führend in Paris einzufahren und von Jeanine bewundert in die Arme genommen zu werden, richtet Chevillard notfalls wieder auf. Diese Jeanine hatte er am Abend vor der ersten Etappe flüchtig kennengelernt, und soviel Innigkeit motiviert junge Pedaltreter. Aber auch diese Liebesgeschichte endet nicht gänzlich wahrhaftig.
Früher war alles besser. Das ist hinreichend bekannt, gilt im allgemeinen und im besonderen für den Fußball. Da hat es die neue Liebe der Deutschen, der Radsport, deutlich besser: Unkenntnis schützt weithin vor jeglicher Wahrheit! Nach einjähriger stürmischer Zuneigung flimmerte freilich mit der diesjährigen Tour de France Ernüchterung in die Wohnstuben. Der Mitte der zwanziger Jahre geschriebene Roman des französischen Sportjournalisten André Reuze beleuchtet die hierzulande unbekannten Epochen. Und was für ein funkelndes Schlaglicht erhellt hier die Tour- Szene: 5.400 Kilometer müssen die Romanhelden über Kopfsteinpflaster und steinige Feldwege strampeln, quasi authentisch, denn beispielsweise der leichtfüßige Blanc-Mesnil dürfte dem Sieger von 1907 und 1908, Petit-Breton, nachempfunden sein.
Morgens um zwei Uhr früh fiel der Startschuß für Etappen über eine Länge von weit über 400 Kilometern. Bei Gabelbruch wurde selbst geschmiedet, fremde Hilfe führte zum Ausschluß. Gegen Mitternacht trudelten dann die letzten der „Touristen“ ins Etappenziel, nachdem vorher von diesen Amateurfahrern und den dreißig Profis drei Berge der höchsten Kategorie bezwungen worden waren. Heute ist die Tour wesentlich kürzer, ein Steilanstieg genügt, und die Etappen sind in etwa halb so lang. Die 1910 gefahrene Durchschnittsgeschwindigkeit von 29,099 Kilometer beeindruckt daher selbst Nachgeborene.
Damit es flott über den eigenen Leistungszenit hinausging, half auch damals schon so manches: Eine Pulle mit Branntwein als letzte Energiereserve trugen viele Fahrer um den Hals, beliebt als Mittel zur Leistungssteigerung war zudem Strychnin. Aber es durfte auch mal eine „Dopingpille“ sein, wenngleich diese als gesundheitsgefährdend galt – eine Sicht, der sich die Sportwelt erst nach mehreren Todesfällen in diesem Jahr wieder zu nähern scheint. Auch vor siebzig Jahren ging es für die Spitzenfahrer und den Veranstalter von der Sportzeitschrift L'Equipe um viel Geld. Die sogenannten Sponsoren waren noch allein Radfabriken, und diese kämpften mit Intrigen, Schiebung und Fahrereinkäufen fast bedingungslos um den Platz an der Werbesonne.
„Die Macht des geschriebenen Wortes muß die Schlafmützen und sogar die Phantasielosen hochreißen, wenn sie am Frühstückstisch sitzen!“ forderte einst Henri Desgrange, der Vater der Tour de France. „Giganten der Landstraße“ reißt uns hinweg in die Hitze des französischen Sommers, läßt uns durch staubige Alleen strampeln und holprige Steilabfahrten hinabrasen, der Winterwind auf verschneiten Gipfeln läßt uns eiskalt schaudern, und bitterböse quält uns Reuzes Roman durch das Matschmeer des Col du Galibier. Wer den Worten nicht traut, darf sich an den grandiosen und unglaublich bunten Schwarzweißfotos eines unbekannten Fotografen vergewissern. Daher mag es nur Zufall gewesen sein, daß ein deutscher Lektor auf einem Berliner Trödelmarkt den Roman wiederentdeckte, aber es ist jedenfalls ein großes Glück für Leserinnen und Bilderschauer. Hermannus Pfeiffer
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