: „Wir fürchten uns nicht“
Interview JENS KÖNIG
taz: Herr Kuhn, fangen wir mit einer langweiligen Frage an: Wozu braucht man die Grünen?
Fritz Kuhn: Was ist daran langweilig? Jede Partei fragt sich, wozu sie da ist.
Man bekommt nur immer wieder die gleichen Antworten.
Soll ich mir Ihretwegen jede Woche neue Antworten einfallen lassen? So weit kommt’s noch. Ich finde es gut, dass wir grüne Antworten haben. Wenn Sie mich fragen, wozu man die FDP braucht, fällt mir gar nichts ein.
Zu den Grünen fällt Ihnen natürlich ganz viel ein. Bitte schön, legen Sie los.
Die Grünen sind in Deutschland, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht, unverzichtbar. Wir sind die einzige ökologische Partei. Wir sind eine Partei der sozialen Gerechtigkeit, mit einem modernen, differenzierten Gerechtigkeitsbegriff. Wir sind die einzige konsequent europäische Partei. Und wir sind eine emanzipativ-libertäre Partei, die auf vielen Gebieten Reformen vorantreibt: Demokratisierung der Gesellschaft, Verhältnis von Frau und Mann, Vereinbarkeit von Kind und Karriere, Minderheitenschutz, Ausländerpolitik.
Ist das nicht deprimierend: Den Sinn der Grünen so einfach erklären zu können, aber gleichzeitig zu merken, dass einem das keiner mehr abkauft?
Sechs bis sieben Prozent der WählerInnen schätzen grüne Politik in diesem Sinne. Natürlich müssen wir wieder an Glaubwürdigkeit und Authentizität gewinnen. Wir waren eine starke Oppositionspartei und sind jetzt erst auf dem Weg, eine starke Regierungspartei zu werden. Wir befinden uns in einer Übergangsphase. Da sind Fragen an uns völlig normal.
Im Wendland hätte man Ihnen Ihre Worte um die Ohren gehauen.
In einer so aufgeheizten Situation wie bei den Castor-Transporten ist es nicht möglich, über den Gebrauchswert der Grünen zu reden. Da schlagen die Emotionen hoch. Aber wir werden weiter das Gespräch mit den Teilen der Anti-AKW-Bewegung suchen, die den Konsens ablehnen.
Als Claudia Roth und Kerstin Müller ins Wendland gefahren sind, wurden sie als grüne Verräter beschimpft.
Ich finde diese Vorwürfe ungerecht. Es kann doch nicht sein, dass die Demonstranten im Wendland die Grünen für ein größeres Problem halten als die Atomkraftlobby.
Enttäuschte Liebe ist besonders schmerzhaft. Das führt bis zum Hass.
Ich kann die Leute in der Region verstehen, die den Atommüll nicht vor ihre Haustür gekippt haben möchten. Allerdings vermindert der Atomkonsens die Anzahl der Transporte, beendet 2005 die Wiederaufbereitung und bringt das Moratorium für Gorleben. Das sind Fakten, die man auch im Wendland nicht übersehen sollte.
Die Leute interessiert vor allem, wie schnell das geht.
Vielleicht haben wir ja vor 1998 zu sehr die Erwartung geweckt, wenn die Grünen an die Regierung kommen, ist mit der Atomkraft von heute auf morgen Schluss. Und natürlich wäre mir persönlich ein schnellerer Atomausstieg auch lieber gewesen. Aber immerhin haben die Grünen einen Atomausstieg durchgesetzt. Wir als Anti-AKW-Partei stehen keineswegs im Hemd da.
Sie fühlen sich als Atomgegner?
Ich selbst komme aus der Anti-AKW-Bewegung. Ich habe im Untersuchungsausschuss gegen Obrigheim jahrelang jede Schraube dieses Kraftwerks technisch und rechtlich auseinander genommen. Ich bin in die Politik gegangen, um Atomkraft zu bekämpfen, um aus dieser Technologie auszusteigen. Und die rot-grüne Regierung hat das geschafft: Der Weg, den wir mit dem Atomkonsens aufgezeigt haben, ist der erste, der rausführt aus der Atomenergie. Das ist ein Riesenerfolg. All diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, frage ich: Was wäre denn ihr Weg gewesen?
Steckt hinter der Diskussion über die Atompolitik nicht eines Ihrer Grundprobleme? Je professioneller die Grünen beim Regieren werden, desto mehr verlieren Sie die Tuchfühlung zu dem Milieu, aus dem sie kommen.
Ich glaube das nicht. Es wird immer ein falscher Gegensatz aufgemacht: Entweder die Grünen sind eine Partei, die über den Tag hinausdenkt, die Visionen hat, mit der sich die Wähler identifizieren können – oder die Grünen sind eine pragmatische Regierungspartei, die am kurzfristigen Erfolg interessiert ist und keine Wärme ausstrahlt.
Viele Grüne empfinden diesen Gegensatz so.
Das mag sein. Aber die Grünen sind beides, visionär und pragmatisch. Das Verhältnis von Visionen zu konkreten Alltagsschritten werden wir neu bestimmen müssen. Wir sind in eine Kommunikationsfalle geraten, wonach Regierungshandeln allzu leicht als Verrat an den Visionen gesehen wird. Doch beim Thema neue Landwirtschaft wird uns so etwas nicht mehr passieren.
Wann wollen die Grünen denn mal wieder eine Wahl gewinnen?
Am Wollen hat’s bisher nicht gelegen.
Gute Antwort. Sie haben 15 Wahlniederlagen in Folge kassiert.
Wir kommen schon wieder auf die Beine. Die bittere Medizin beginnt zu wirken. Wir verlieren zwar seit 1997, seit dem Parteitag in Magedeburg, auf dem wir den Fünf-Mark-Beschluss gefasst haben. Aber vorher hatten wir ungeheuer hohe Wahlergebnisse. Wir schrumpfen jetzt auf unser Normalmaß. Wir liegen stabil bei sechs, sieben Prozent.
Man merkt, hier spricht der Parteivorsitzende.
Ja, sicher. Aber ich will hier nichts schönreden, sondern nur erklären. Unser Ziel für die Bundestagswahl 2002 ist klar: Wir wollen unser Ergebnis vom letzten Mal mit 6,7 Prozent verbessern.
Und Sie sind natürlich optimistisch, dass das den Grünen gelingen wird.
Ja, ich sag Ihnen auch, warum. Bei der nächsten Bundestagswahl geht es um eine einfache Alternative: Entweder die sozial-ökologische Modernisierung geht mit Rot-Grün weiter oder das Land fällt in den Stillstand zurück. Mit der CDU oder der FDP kommen der Ellbogen, soziale Kälte und eine inhaltliche Beliebigkeit zurück. Vor dieser Wahl brauchen wir uns nicht zu fürchten.
Das hört sich alles immer gut an. Aber es nützt Ihnen nichts.
Die taz stellt offiziell fest, dass sich unsere Ziele gut anhören – das ist doch schon mal was. Aber sie hören sich nicht nur gut an, sie sind es auch.
Es ist jedoch schwer zu verstehen: Alle reden wieder von Ökologie, es gibt eine BSE-Krise, die Grünen haben populäre Minister – und trotzdem verlieren Sie bei jeder Wahl.
Ich habe da gar keine Illusionen: Bis sich die Neuorientierung unserer Partei, eine verbrauchernahe Politik oder die Popularität einer Ministerin wie Renate Künast in Wählerstimmen niederschlagen, dauert es eine Weile. Die Leute wollen Ergebnisse unserer Politik sehen.
Sie können also kurzfristig nichts anders machen, um die Krise der Grünen zu überwinden?
Doch. Wir müssen das Zentrum der Partei stärken. Die Grünen denken noch zu sehr in Strömungskategorien. Dabei gibt es in der Partei gar nicht mehr die inhaltlichen Auseinandersetzungen, die diese Strömungen rechtfertigen. Dadurch wirken sie nur noch wie Versorgungsinstitutionen für grüne Politiker, die was werden wollen. Die Strömungen bei den Grünen kann man vielleicht nie endgültig abschaffen, aber ihre Bedeutung muss drastisch sinken. Wir müssen gemeinsam handeln. Wir brauchen klare Botschaften. Und wir müssen uns auf einige wenige Themen konzentrieren.
Auf welche?
Neben der Ökologie und dem Verbraucherschutz sollten zwei weitere Themen hinzukommen: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch grüne Wirtschafts- und Sozialstaatsreformen sowie Kinderpolitik.
Kinderpolitik? Die Grünen?
Für dieses Thema sind die Grünen wie geschaffen. Wir waren es, die den Begriff der Generationengerechtigkeit geprägt haben – in der Ökologie, bei der Rentenreform, bei der Haushaltssanierung. Wir nehmen die Interessen der Kinder ernster als andere. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung hat ja noch mal deutlich gemacht, dass da, wo Kinder sind, mehr staatliche Förderung hingehört.
Sie reden als Betroffener. Sie sind Vater von zwei Kindern.
Ich weiß, was es heißt, Kinder großzuziehen. Die Grünen sollten eine Offensive für mehr Kinderfreundlichkeit in diesem Land starten. Dazu gehören eine größere finanzielle Unterstützung, die Verbesserung der Infrastruktur für Familien sowie eine Veränderung der Werteinstellung gegenüber Kindern.
Das klingt sehr luftig.
Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich an der Frage orientieren, wie teuer die Kindererziehung für die Eltern ist. Kinder dürfen nicht in Armut aufwachsen. Unsere Fraktion hat daher eine Kindergrundsicherung vorgeschlagen. Wir brauchen mehr Kindergartenplätze, mehr Ganztagesschulen, eine bessere Betreuung der Kinder am Nachmittag, mehr Unterstützung für allein Erziehende. Die Frage, wie sich Kinder in unseren Städten bewegen können, gehört ebenfalls dazu. Auch Verkehrsberuhigung ist Kinderpolitik.
Welchen Kurswechsel planen Sie in der Wirtschaftspolitik?
Wir wollen deutlich machen, dass wir eine moderne Wirtschaftspolitik nicht zum Selbstzweck betreiben. Sie dient der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das ist aber kein Kurswechsel.
Das klingt nach einer zweiten SPD. Vertreter des liberalen Wirtschaftsflügels Ihrer Partei beklagen sich bereits.
Eine zweite SPD – das ist doch Quatsch. Wir haben einen differenzierteren Gerechtigkeitsbegriff als der strukturkonservative Teil der SPD. Haushaltskonsolidierung, Mittelstandspolitik, Einsatz für neue Technologien – das ist und bleibt grüne Politik. Das wurde von einigen völlig zu Unrecht mit dem Label „neoliberal“ versehen. Man kann mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben, und schwarze Zahlen bedeuten neue Arbeitsplätze. Eine moderne grüne Partei denkt soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Reformen und ökologische Entwicklung zusammen.
Wir haben ein langes Interview geführt, und kein einziges Mal fiel der Name Trittin. Was bedeutet das?
Das ist ein gutes Zeichen. Die Aufgeregtheiten der letzten Wochen haben sich gelegt.
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