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Wip Holland Wip!

Durchs Tegewillen sollen bald schon auf dem Streifen vor Christiaens‘ und Blooms Haustür Geranien, Verbenen und ein Apfelbaum wachsen

Bald schon sollen auf dem Streifen vor Christiaens‘ und Blooms Haustür Geranien, Verbenen und ein Apfelbaum wachsen

Aus Arnheim Tobias Müller (Text und Foto)

Die Fanfare Accu spielt, als wollte sie mit ihren fröhlichen Bläsern und Trommlern den Nieselregen verjagen und das Grau dieses Oktobertages gleich dazu. Passend zum Vorhaben der gutgelaunten Prozession, die die Band unter den Klängen von La Bamba hinaus aus dem Nachbarschaftszentrum De Malburcht begleitet. Es geht zurück zu ihren Wohnhäusern. Vor sich rollt die Gruppe volle Schubkarren mit jungen Pflanzen und säcke­weise Blumenerde durch die unscheinbaren Straßen von Malburgen, einem Viertel im Süden der niederländischen Stadt Arnheim. Da, wo bisher noch graue Bodenplatten aus Beton die Hauseingänge und Streifen an der Straße bedecken, wollen sie heute kleine Gärten anlegen. Als beschwingt die bekannte Melodie dem Refrain entgegentreibt, rufen sie: „Te-gel-wip-pen! Te-gel-wip-pen!“ Übersetzt heißt das in etwa: Platten schaukeln. So lässt sich das Vorhaben dieses Tages zusammenfassen.

Es ist der Name einer lokalen Klimainitiative, die inzwischen fast überall in den Niederlanden Fuß gefasst hat. Sie hat das Ziel, große Flächen zu entsiegeln. Mehr Grün soll in die Städte, um sie klimaresistenter zu machen und damit beispielsweise lokalen Hitzestress zu bekämpfen. Aber das Ganze ist auch ein Wettbewerb, der in den vergangenen Jahren rasant an Popularität gewonnen hat. In der NK Tegelwippen der niederländischen Meisterschaft im Plattenheben – treten 200 Städte gegeneinander an, und wer die größte Fläche entpflastert hat, gewinnt: den Gouden Tegel, die goldene Betonplatte.

Der „Große Pflanztag“ im Süden Arnheims an diesem regnerischen Nachmittag reiht sich in den Endspurt der Wettkampfsaison ein. Morgens wurde der Pflanztag bereits im Norden der Stadt eröffnet, tags zuvor fand einer in Utrecht statt. Am letzten Oktobertag endet dann die diesjährige Wettkampfsaison, die im März begann.

55 Haushalte hätten sich in Malburgen angemeldet und zu stark reduzierten Preisen etwa 105 Blumensets bestellt, sagt Remco Moen, der so etwas wie der Vater des Platten­hebens ist. „Jedes reicht für zwei bis vier Quadratmeter Garten.“ Zur Feier des Tages hat sich der 50-Jährige in einen pinkfarbenen Overall geworfen, auf dem „NK Tegelwippen“ steht, dazu trägt Moen grüne Gummistiefel und ein Basecap mit der Aufschrift „Frank Lee“. Letzteres ist der Name des Amsterdamer Büros, in dem er und seine Mit­strei­te­r*in­nen Kampagnen für soziale und nachhaltige Themen entwerfen, etwa den ­nationalen Wettbewerb.

Eben stand auch er noch im Hof des Nachbarschaftshauses, dessen blockförmiges Äußeres sonst einem Bunker nicht unähnlich sieht. Heute allerdings erinnert es an ein Gartenzentrum. Am Zaun lehnen Spaten und Besen, einsatzbereit und über den gepflasterten Hof erstreckten sich die Reihen junger Pflanzen, die bald schon in den Vorgärten verwurzeln sollen.

Das Prinzip des Wett-Entpflasterns: „Grau raus, Grün rein.“ Wer wippen will, registriert das entsprechende Vorhaben und lädt Vorher- und Nachherfotos hoch, die entfernten Platten werden gezählt – ob vor der Haustür, der Einfahrt oder dem Stück Weg an der Straße. Das Standardformat misst 30 mal 30 Zentimeter, kleinere werden umgerechnet, so entsprechen etwa drei Backsteine einer Platte.

Zu wippen gibt es einiges in den Niederlanden: 2023 war gut ein Drittel der Gärten mindestens zur Hälfte mit Platten bedeckt, in Amsterdam, Rotterdam und Den Haag sogar zwei Drittel. Dazu kommen die Auswirkungen des Klimawandels, der sich hierzulande vor allem in mehr und extremeren Regenfällen äußert. Die jährliche Niederschlagsmenge stieg von 1910 bis 2022 um 26 Prozent an. Straßen stehen häufiger unter Wasser, das aufgrund des versiegelten Bodens nicht abfließen kann.

„Auch hier hatten wir das schon“, sagt Wilma Christiaens, die nur wenige Hundert Meter vom Nachbarschaftszentrum wohnt. „Selbst jetzt steht das Wasser noch auf der Straße“, sagt sie und weist auf die Pfützen unweit ihres Eckhauses, Überbleibsel der jüngsten Schauer. Christiaens, die an der Arnheimer Hochschule arbeitet, und ihr Mann Bertus Bloom wollen mit dem Pflanzen beginnen. Mehrere Reihen von Betonplatten haben sie bereits vor ihrem Haus aus dem Boden an der Straße gehoben. Lockere Blumenerde bedeckt die Fläche, die nun ein Vorgarten werden soll. An ihrem Rand stehen die bestellten Blumen, Spaten, Rechen und Besen.

Unterdessen zieht auf der Straße die Fanfare Accu vorbei. Überall, wo Be­woh­ne­r*in­nen des Viertels Steinplatten und Ziegel lösen, hält die Band inne und spielt ihnen ein persönliches Ständchen. „Das ist Bordstein-Unterhaltung“, sagt Remco Moen, der mit der Band umherzieht. „Bei so einer Veranstaltung muss auch etwas passieren.“ Hier und da packt er beim Tragen an und stemmt auch selbst ein paar Platten aus dem Belag. Dann schwingt er wieder das Tanzbein oder ein großes Pappschild, auf dem „Wip Holland Wip“ steht – eine Referenz anHup Holland Hup“, den bekannten Anfeuerungsruf für die orange gekleideten Ki­cke­r*in­nen.

Als Tochter eines Pflanzenzüchters ist Christiaens „mit grünem Daumen aufgewachsen“ und gärtnert gerne, nun auch vor dem Haus: „Die Steine müssen sowieso raus, um die Stadt im Sommer zu kühlen und den Regen abfließen zu lassen. Wir müssen uns einfach ums Klima kümmern.“ Gemeinsam mit ihrem Mann besuchte sie einen Workshop und entwarf ein Bild ihres künftigen Gartens, das nun als Zeichnung am Fenster im Erdgeschoss klebt. Wachsen werden darin Geranien, Verbenen, Seifenkraut, Silberhaargras und ein Apfelbaum. „Pflanzen, die Sonne abkönnen, denn dies ist die Südseite“, erklärt Wilma Christiaens. Ihr Mann Bloom ergänzt: „Wir haben hier fruchtbaren Boden. Es wäre jammerschade, den ungenutzt zu lassen. Und dann kommen die Schmetterlinge, Bienen und Hummeln.“

Inspiriert hat das Paar zunächst der Nachbar. Joël Albert de la Bruheze und seine Familie wippen schon seit zwei Jahren. „Wir haben Erdbeeren und Feigen und ein paar Kräuter gepflanzt und Blauen Regen, der ist richtig explodiert“, sagt der junge Geschichtslehrer. „Die Feigen schmecken fantastisch, mein anderthalbjähriger Sohn will jeden Tag eine essen.“ Christiaens und Bloom von nebenan sahen den Vorgarten und wollten auch mitmachen. Soeben kommt der Nachbar schauen, ob er helfen kann. Überzeugt hat ihn nicht zuletzt, das „Tegel-Taxi“: ein Auto, das die entfernten Platten abholen kommt und an diesem Nachmittag auch am Nachbarschaftshaus vorfahren wird. Einig sind sich alle drei darin, dass ihnen das Turnier eher gleichgültig ist.

In der öffentlichen Wahrnehmung freilich ist genau dieses Element entscheidend – und zwar von Anfang an. Remco Moen erinnert sich: „Es war 2020, zu Beginn der Covidpandemie.“ Sein Amsterdamer Büro beschäftigte sich damals mit ungenutzter Dachlandschaft in Amsterdam und Wasserrückhalt. „Wir planten ein Festival auf Dächern und eine Bar mit Bier, das mit Regenwasser gebraut wird. Aber all das ging nicht. Zugleich lagen auch alle Veranstaltungen wie Fußballspiele still. Weil es ein schönes, sonniges Frühjahr war, gab es einen Ansturm auf Gartenzentren. So entstand die Idee: Lass uns um die Wette plattenheben! Amsterdam gegen Rotterdam, das funktioniert immer!“

Überall, wo die Bewohnenden Steinplatten lösen, hält die Band und spielt ein Ständchen

Und wie es funktionierte. Das Echo war so groß, dass das Thema bald schon in die Ratssitzungen beider Städte kam, wo die Nachhaltigkeits-Dezernent*innen jeweils Auskunft zum Zwischenstand geben sollten. Schlussendlich gewann Rotterdam, zusammen haben die Be­woh­ne­r*in­nen 100.000 Platten entfernt. Aber damit sollte es nicht enden, „wegen der großen Resonanz machten wir ab 2021 einen offenen Wettbewerb daraus. Und direkt hatten wir 80 Städte, die sich anmeldeten“, sagt Recmo.

Inzwischen sind es über 200 Städte, die in den Kategorien groß, mittel und klein teilnehmen. Über 1.000 verzeichnete Entpflasterungen gibt es pro Monat, 2025 wurden bislang mehr als 6 Millionen Platten entfernt. Das Ministerium für Infrastruktur und Wasserwesen unterstützt den Wettbewerb, Gartenzentren sind als Sponsoren eingestiegen, selbst in der niederländischen Donald-Duck-Ausgabe rückten die schnatternde Gans und ihre drei Neffen im Sommer den Platten zu Leibe. „Du sprichst damit Leute an, die vielleicht für eine Geschichte über Biodiversität oder Wasserrückhalt weniger empfänglich sind“, sagt Moen. Natürlich hat er schon Pläne für die Zukunft: Ein internationaler Wettbewerb namens „The Battle of the big cities“ schwebt ihm vor, an dem auch Berlin, Hamburg, Köln, Paris oder Antwerpen teilnehmen könnten. Aber auch in Deutschland gibt es bereits ähnliche Wettkämpfe um Entsiegelung.

Zunächst erfreut sich Moen aber an der Ausbeute in Arnheim: Insgesamt 2.000 Platten seien entfernt worden, bilanziert er zwei Tage nach dem Großen Pflanztag. Gewonnen hat die Stadt am Ende nicht, die goldene Platte geht dieses Jahr an Utrecht. Aber das ist egal, denn jede Fliese zählt „und jede davon liefert einen Beitrag, denn sie liefert 900 Quadratzentimeter grünes Glück“, sagt Moen.

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