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Uwe Rosenberg und Hermann Vinke: damals wie heute im Bremer Ortsteil Borgfeld in der Flüchtlingshilfe aktiv Foto: Tristan Vankann/fotoetage

Willkommenskultur in DeutschlandSchafft man sowas noch mal?

Millionen Menschen unterstützten 2015 Geflüchtete – trotz Widerstand. Viele der damals geschaffenen Strukturen bestehen bis heute.

Christian Jakob
Von Christian Jakob aus Bremen

S ie haben fast alle der 80 Jugendlichen noch einmal ausfindig gemacht, sagt Uwe Rosenberg. Eine Wiedersehensfeier wird es geben, im Oktober, im Freizeitheim des Roten Kreuzes. „Das wird eine große Sache“, sagt er. Die Geflüchteten von damals, die Freiwilligen und sogar Bremens Bürgermeister werden kommen. „Das ist ja auch nicht selbstverständlich, dass der das macht.“

An einem Freitag im September sitzt Rosenberg vor der Gelateria Italiana in Borgfeld, einem bürgerlichen Stadtteil im Norden Bremens. Auch in der Abendsonne ist der nahe Herbst zu spüren, am Nachmittag hat es geregnet. Rosenberg hat einen Mitstreiter dabei, Hermann Vinke, ein ehemaliger ARD-Journalist im Ruhestand.

Aus 20 Turnhallen machte das Land Bremen im Herbst 2015 Notunterkünfte. Eine davon war jene am Borgfelder Saatland. Die Bundeswehr stellte Betten auf, am 2. Oktober 2015 kamen Busse mit 80 damals minderjährigen, unbegleiteten Geflüchteten an. Sie stammten aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Somalia, Sudan, Guinea, Albanien und Marokko. Vier Träger wurden dafür bezahlt, sich um die Versorgung zu kümmern. Doch damit wäre es nicht getan gewesen, so viel war klar. Uwe Rosenberg, damals frisch aus dem Postdienst in den Ruhestand getreten, und Hermann Vinke, der Publizist, gehörten zu den so vielen Menschen, die sich damals zur Aufgabe gemacht hatten, den Ankommenden zur Seite zu stehen.

Was ist von dieser Stimmung geblieben, jetzt, da die AfD einigen Umfragen zufolge mehr Stimmen im Land bekommt als alle anderen Parteien? Da die Union ihre totalen Abschottungspläne als „Migrationswende“ verkauft? Die 80 Jugendlichen, die damals nach Borgfeld kamen, lebten 123 Tage in der Turnhalle. Im Februar 2016 bekamen der TSV und der SC Borgfeld sie zurück. Die Jugendlichen wurden in andere Unterkünfte verlegt. „Da haben sie geweint. Sie waren wie eine Familie geworden“, sagt Rosenberg.

Er hat eine Mappe mitgebracht, mit Artikeln aus den lokalen Zeitungen. Straßenbahnfahrer, Mercedes-Autobauer, Konstruktionsmechaniker, Rettungssanitäter, Altenpfleger – das ist aus den Ankommenden von damals geworden, davon handeln die Berichte. Er zahle Steuern und „hält sich an die Regeln“, mit diesem Satz wird einer der porträtierten Afghanen zitiert. „Ihre Geschichten sind Beispiele für gelungene Integration“, schreibt der Weser-Kurier, der seit Jahren den Biografien der damals Angekommenen nachgeht.

Die Turnhalle in Borgfeld war 2015 eine Notunterkunft für 80 unbegleitete minderjährige Geflüchtete Foto: Tristan Vankann/fotoetage

Millionen Menschen beteiligten sich bei Hilfen

Rosenberg breitet einen ausgerissenen Zeitungsartikel nach dem anderen vor sich aus. Er erzählt von der „Weltschule“ für den Deutschunterricht, die sie damals improvisiert haben, dem Büro, das sie sich im Geräteraum der Turnhalle eingerichtet hatten, den Patenschaften für die Behördengänge. „Mit Flüchtlingen hatte ich vorher nie zu tun“, sagt Rosenberg. „Nie hätte ich mir vorgestellt, mal eine solche Aufgabe zu übernehmen.“ Sie teilten die Jugendlichen nach Sprach- und Schriftkenntnissen in Gruppen, sprachen mit der Presse, als es zur ersten Schlägerei kam, und halfen, als Trockenbauwände ein wenig Privatsphäre schaffen sollten.

Hermann Vinke, der pensionierte Radiojournalist, war mit dem 2016 gestorbenen Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck befreundet. „Mein Vorbild“, sagt er. Und so sah auch Vinke es als seine Aufgabe an, zu helfen, als Flüchtlinge nach Borgfeld kamen. Zum Zahnarzt mit „unseren Jungs“; zu Vorstellungsgesprächen; vermitteln, wenn ein Handy wegkam; „fördern und fordern“, „Respekt“ – davon ist in Vinkes und Rosenbergs Newslettern aus dem Herbst 2015 die Rede. „Einmal lauf ich über die Straße und dann klingelt die Straßenbahn und dann winkt mir Alfa aus Guinea vom Steuer zu“, erinnert sich Rosenberg. Zahlen kann er keine nennen, sicher ist für ihn aber: Ein großer Teil der Jugendlichen von damals hat in Deutschland Fuß gefasst.

Starthilfe durch persönliche Beziehungen, soziale Kontakte und Sprachvermittlung – seit vielen Jahren zeigt sich an vielen Orten, dass dies der wirksamste Weg ist, Ressentiments abzubauen und Ankommenden eine Perspektive zu geben.

Tatsächlich sind viele der 2015 gegründeten Initiativen bis heute aktiv – Borgfeld ist da keine Ausnahme

Im Tagesspiegel wird heute darüber nachgedacht, wohin sich auswandern ließe, wenn 2029 die AfD an die Macht kommt. Ist die Willkommenskultur also pulverisiert, passé, nur noch präsent auf vergilbenden Zeitungsausschnitten? Wie viele Menschen sind heute bereit, zu helfen, Ankommenden offen zu begegnen? War „2015“ eine historische Einmaligkeit? Oder gibt es Bedingungen, die praktische Solidarität damals möglich machten, an die sich womöglich anknüpfen lässt?

Rund fünf Millionen Menschen sollen sich 2015 in Deutschland an der Unterstützung der Flüchtlinge beteiligt haben, schätzte 2016 der sozialwissenschaftliche Dienst der Evangelischen Kirche. Der Migrationsforscher Werner Schiffauer identifizierte über 15.000 „neu geschaffene oder schon existierende Projekte“, die ab August 2015 Flüchtlinge unterstützten. An sich war das nichts Neues, seit Jahrzehnten hatten sich Gruppen, Träger, Kirchen in dem Bereich engagiert. Plötzlich aber geschah dies allerorten – und hieß „Willkommenskultur“.

Willkommenskultur zum ersten Mal 2011 aufgetaucht

Der eigentümliche, so technische Begriff war 2011 zum ersten Mal in den Migrationsberichten der Bundesregierung aufgetaucht. Gemeint waren da Bedingungen, die administrativ hergestellt werden sollten, um Deutschland für IT-Fachkräfte und Aka­de­mi­ke­r:in­nen attraktiv zu machen. Doch als die Flüchtlinge kamen, wurde das Wort zur Chiffre für eine bemerkenswerte Woge organisierter Solidarität.

Eine Bonner Initiative beantragte gar, die deutsche „Willkommenskultur“ in die Liste über das immaterielle Kulturerbe der Unesco aufzunehmen. Es war eine maßlose Überschätzung angesichts der Entbehrungen, die die Aufnahme großer Zahlen Vertriebener für viele Länder des Globalen Südens bedeutet. Doch die Größenordnung des zivilgesellschaftlichen Engagements ab August 2015 war zweifellos ein Novum für Deutschland.

Die einen versuchen jene Zeit als „Kontrollverlust“, als „Herrschaft des Unrechts“, wie der Ex-CSU-Innenminister Horst Seehofer, oder gar als „Migrationsputsch“, wie jüngst der rechtsextreme Deutschland-Kurier, zu diskreditieren.

Andere halten dagegen, dass Menschen sich damals ermächtigten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, sich nicht im Krieg einfach töten zu lassen, Schutz und eine Perspektive zu suchen. Und dass sie dabei auf Menschen trafen, die sie am Bahnhof begrüßten, sich als freiwillige Hel­fe­r:in­nen in Listen eintrugen, Spenden brachten, bis die Lager übervoll waren – und sich von einer zeitweise euphorischen Stimmung ergreifen ließen. Dabei war damals wie heute die Stimmung ambivalent. Das zeigte sich auch in Borgfeld.

„Das ist hier ein konservativer Stadtteil“, sagt Vinke. Rosenberg zeigt auf seinem Handy einen Beitrag des Radio-Bremen-Lokalmagazins buten un binnen. Es sind Aufnahmen einer Bürgerversammlung aus Borgfeld von Ende 2014. Damals hatte das Land angekündigt, eine Handvoll Container für Geflüchtete in dem Stadtteil aufzustellen. Auf einer Bürgerversammlung kamen die besorgten Bürger zu Wort: „Ich fühle mich und meine Familie bedroht“, sagte einer. Ein „Kriminalitätsproblem“ durch „testosterongesteuerte Jugendliche“ fürchtete ein andere. Der Wert der Häuser werde sinken, und es werde „Chaos und Katastrophen“ geben, glaubten weitere.

Vinke berief eine zweite Bürgerversammlung ein – und rief auf, sich konkret zu engagieren. Rosenberg legt lange, ausgedruckte Excel-Tabellen auf den Tisch: „Alles Leute, die sich als Freiwillige gemeldet hatten.“ Aus ihr ging der Runde Tisch als Bürgerinitiative hervor. Die Widerstände jedoch blieben bis heute. Der CDU-dominiere Ortsbeirat habe „eigentlich immer alles abgelehnt, was wir wollten“, sagt Vinke. Rosenberg nickt.

Im September 2015 waren 33 Prozent der Deutschen der Auffassung, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen, im Januar 2025 waren es 68 Prozent. Manchen gilt dies als Beleg dafür, das „2015“ gescheitert sei: „Wir“ haben „es doch nicht geschafft“, es gebe keine Akzeptanz mehr für eine offene Asylpolitik. Doch diese Zahlen sind nicht statisch, sondern das fluide Produkt der Art, wie über Migration gesprochen wird – und wie Menschen sich vor Ort engagieren.Tatsächlich sind viele der 2015 gegründeten Initiativen bis heute aktiv – Borgfeld ist da keine Ausnahme. Praktische Solidarität bleibt ein starkes, widerstandsfähiges Ökosystem, selbst wenn professionalisierte ­Ini­tiativen besonders von Kürzungen betroffen sind.

Im Newsletter des Runden Tisches schreibt Vinke, es sei „von Anfang an klar und zum Teil auch verständlich“ gewesen, dass die Aufnahme der unbegleiteten Minderjährigen mit Schwierigkeiten und Problemen verbunden sein würde. Doch mit konkreten Angeboten, zu helfen, sich einzubringen, sei es gelungen, die Ablehnung der Borgfelder zu überwinden und „Einwohner zu gewinnen, die bereit waren, den Jugendlichen offen, freundlich und hilfsbereit zu begegnen.“ Rosenberg berichtet von Nachbarn, die vierstellige Beträge spendeten. „Die sagten dann: Wenn ihr noch was braucht, sagt Bescheid.“

Patzelts Appell war für viele eine maximale Provokation

Eine ähnliche Geschichte erzählt Martin Patzelt. Der CDU-Politiker war lange Oberbürgermeister von Frankfurt an der Oder, später saß er im Bundestag. 2014, zu Hochzeiten von Pegida, rief er dazu auf, „über eine zeitnahe Aufnahme von Flüchtlingen, insbesondere von Müttern mit Kleinkindern, in ihren eigenen Häusern oder Wohnungen nachzudenken“. Er selbst hatte das so getan, mehrfach. 2015 zogen zwei Eritreer in sein Haus im brandenburgischen Briesen. „Wir haben da genug Platz“, sagt Patzelt. Auch damals, Willkommenskultur hin oder her, war Patzelts Appell für viele eine maximale Provokation. „Ich hab sogar Morddrohungen bekommen“, sagt Patzelt der taz heute.

Zwei Bedingungen hatte Patzelt den Eritreern in seinem Haus gestellte er: Sie müssten arbeiten und Deutsch lernen. Das müsse die Politik auch insgesamt von den Asylsuchenden verlangen. „Das ist nur recht und billig“, sagt er, es sei der sicherste Weg, die Ressentiments vor den Schutzsuchenden abzubauen und Integration zu gewährleisten.

Patzelt wollte 2017 aus dem Bundestag ausscheiden. Aber als der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland sich Patzelts Wahlkreis zur Kandidatur aussuchte, überlegte er es sich anders. „Die Stimmung war damals ja schon so blau hier“, sagt er. Doch Gauland wollte er das Mandat auf keinen Fall überlassen. „Da habe ich noch einmal richtig gekämpft – und mit 70 noch einmal eine Ehrenrunde im Bundestag gedreht.“ Patzelt gewann gegen den AfDler, so wie er überhaupt viele Wahlen in der Region gewann, obwohl er klar liberale Positionen bezieht. Wofür er steht, das wurde schon damals als „Gutmenschentum“ verächtlich gemacht. Doch Patzelts politische Erfolge, seine lokale Popularität beweisen, dass diese Niederträchtigkeit nicht verfangen muss. Möglich sei dies nach wie vor und vor allem, indem man vor Ort präsent sei, kommuniziere, auf die Menschen zugehe, sagt er.

„Wenn der Schwarze mir die Wurst einpackt, kaufe ich hier nicht mehr ein“ – das habe eine Kundin dem Supermarktleiter damals gesagt, berichtet Patzelt. „So war hier die Stimmung“, sagt er. Doch das sei passé. Es seien die Begegnungen gewesen, die die Menschen in Briesen mit den Eritreern und anderen Geflüchteten gehabt hätten. „Heute werden die zum Grillen eingeladen, da sagt keiner, die sollen weg.“

Der Rechtsruck ist zweifelsohne da

Die gesellschaftliche Stimmung im ländlichen Brandenburg ist kaum mit jener im bürgerlichen, westdeutschen Borgfeld zu vergleichen. Und doch gibt es Parallelen. Vinke und Rosenberg sind überzeugt, dass „2015“ kein Mysterium war, das aus unerfindlichen Gründen über Deutschland kam und wieder verschwand. „Es ist meine Überzeugung, dass es heute genauso möglich ist, Menschen Angebote zum Engagement zu machen und die auch angenommen werden,“ sagt Vinke. Die Willkommenskultur war nicht bloß Momentum, sondern auch Folge wiederholbaren, sozialen Handelns.

Der Rechtsruck ist zweifellos da. Wendet man aber den Blick von Umfragewerten der AfD, der Hetze in den sozialen Medien, den lustvollen Tabubrüchen der Konservativen ab und schaut aufs Kleine, ins Lokale, auf den Einzelnen, dann ist das Bild oft ein anderes – und steht im starken Widerspruch zur vermeintlich allgegenwärtigen Stimmung.

„Ich kann das aus meinen Erfahrungen nur bestätigen“, sagt der Brandenburger Martin Patzelt. Und es gebe dazu auch gar keine Alternative, im Kleinen für Offenheit einzustehen. „Angesichts der Ungerechtigkeit auf der Welt, der ökologischen Krisen, werden weiter Menschen kommen, das ist doch völlig klar, wie kann man den Menschen denn erzählen, dass man das verhindern kann?“, fragt er. Deutschland sei auf Zuwanderung angewiesen, die demografische Entwicklung sei vollkommen eindeutig. Wer verantwortungsvolle Politik mache, müsse das den Menschen sagen und Wege anbieten, die Ankommenden der Zukunft im Land zu integrieren.

2015 war nicht das Ende, sondern der Anfang – in Borgfeld stellen sie sich längst auf die nächsten Ankünfte ein. Auf dem Grundstück des ehemaligen Gasthofs „Borgfelder Landhaus“, direkt an der Landesgrenze zu Niedersachsen, startte im August 2025 der Bau einer neuen Geflüchteten-Unterkunft. Drei Stockwerke, 35 Wohnungen, rund 100 Plätze für als asylberechtigt anerkannte Familien.

„Es wird kein Erstaufnahmelager, keine Notfallunterkunft“, sagt der Bauherr. „Es kann nicht sein, dass wir die Geflüchteten nur in einem Stadtteil konzentrieren“, sagt der Bürgermeister zu dem Projekt. Die Verteilung müsse sich „gerecht“ über das gesamte Stadtgebiet ziehen. „Unsere ganzen Häuser werden entwertet, wenn sie hier so einen Klotz hinsetzen“, sagen Anwohner und haben Widerspruch angelegt.

Es ist alles wie immer, so wie es auch 2015 war, und davor und danach. Es werden wieder Geflüchtete kommen, und es wird wieder so sein, dass es umso besser für alle läuft, je mehr Unterstützung ihnen geboten wird. Den Runden Tisch Borgfeld gibt es heute noch. Man werde versuchen, den Menschen in der neuen Unterkunft ähnlich zur Seite zu stehen wie damals den Jugendlichen in der Turnhalle, sagt Rosenberg. „Wenn die Menschen kommen, wollen wir vorbereitet sein.“

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