: Wiederbelebung eines Mythos
Mit dem Willen zu Krach, Noise und viel Kajal um die Augen wurde auf den atonal-Festivals in Berlin Klangforschung betrieben. Nun wird die Legende aus der Westberliner Vorwendezeit neu aufgelegt ■ Von Thomas Winkler
Gleich hinter „Atonalist“ und „Atonalität“ findet sich im Fremdwörter-Duden die „Atonie“, ein medizinischer Ausdruck für „Erschlaffung, Schlaffheit (der Muskeln)“. Dies ist so ziemlich genau der Zustand, der Publikum, Künstler und Veranstalter im Laufe eines atonal-Festivals unweigerlich befallen mußte. „atonal war der Versuch, an die Grenzen dessen zu kommen, was man an musikalischer Volldosis in drei, vier Tagen ertragen kann“, erinnert sich Dimitri Hegemann.
Von 1982 bis 1990 organisierte Hegemann, inzwischen als Betreiber von Tresor Records, des Tresor Stores, diverser Kneipen und natürlich vor allem des Clubs Tresor einer der Honoratioren der Techno-Hauptstadt Berlin, fünf Mal das „Berlin atonal“. Die Festivals gehörten zum Westberliner Mauerstadtmythos wie die fehlende Sperrstunde, das labbrige Pils, Bundeswehrdrückeberger und besetzte Häuser.
Neun Jahre nach der letzten Auflage erweckt nun Michael Schäumer den alten Mythos zu neuem Leben. Schäumer, Mitorganisator der letzten beiden Festivals und inzwischen Veranstalter in der Konzerthalle Arena in Treptow, wo die Neuauflage heute abend beginnen wird, hatte „auf den Wiedererkennungseffekt gehofft, und der ist eingetreten“. Viele von denen, die damals in den 80er Jahren vor Wehrdienst und Provinzmief geflüchtet und mit großen Augen dem Westberliner Kaputtcharme erlegen waren, der sich nirgendwo sonst so offenbarte wie beim atonal-Festival, sitzen inzwischen in den Redaktionen der neuen Hauptstadt. „Die Medien springen drauf an“, hat Schäumer festgestellt, „ob es das Publikum tut, ist eine andere Frage.“
Zwar geht Schäumer nicht davon aus, daß die Besucher der ersten Festivals wieder zu mobilisieren sind, will aber trotzdem „Schnittpunkte zwischen Alt und Neu finden“. Zur Klammer hat er die Einstürzenden Neubauten und den Elektronikbastler Frieder Butzmann erkoren. Beide traten schon beim ersten Festival 1982 im SO 36 auf, Kreuzbergs berühmtestem Punkschuppen. Dessen erste Besetzung hatte Hegemann fast ausschließlich unter den damals gerade die Berliner Kunstszene aufmischenden genialen Dilettanten rekrutiert. Bands wie Die Tödliche Doris, La Loora, Malaria, Sprung aus den Wolken oder Notorische Reflexe boten vor allem ihren Willen zu Krach, Noise und eben Atonalität. Klangforschung war das Schlagwort, das Ergebnis war ein Schock, aber ein überaus lustvoller. Man schmierte sich ein wenig Kajal um die Augen, hielt sich tapfer an der Bierbüchse fest, das Trommelfell spielte verrückt, und schon konnte man über den Rand des Abgrunds blicken.
Allerdings: So sehr Underground, wie das mancher in der Rückschau gerne hätte, war schon das atonal '82 nicht. Im selben Jahr traten die Neubauten bei der Biennale in Paris und der documenta in Kassel auf. Das Festival, dessen Logo man ansehen konnte, daß es von einer Zufallsbekanntschaft des Veranstalters in der Kneipe mit einer Zahnbürste entworfen worden war, war aus dem Stand zur Institution geworden. Schon bei der ersten Auflage drängelten sich die Fernseh-Teams, selbst der konservative Rockpalast fehlte nicht, schließlich gab es einiges an morbidem Schick in allen erdenklichen Schwarztönen zu filmen.
Später brachte Hegemann zum ersten Mal legendäre Lärmwerker wie Psychic TV oder Test Department auf den Kontinent und Laibach nach Deutschland. Auf Metall einzuprügeln war ziemlich schick. Das Publikum reiste teilweise aus England und Skandinavien an, um sich die Grenzbereiche zwischen Industrial und Noise, Elektronik und Stahlfaß, Kunst und Kacke ausloten zu lassen.
„Die ganze Vorbereitung auf das atonal fand immer nur nachts statt“, erinnert sich Hegemann heute. Die Festivals waren gleichzeitig Demonstration und Selbstvergewisserung einer Szene, wie sie nur unter den speziellen Bedingungen Westberlins hatte entstehen können. Diese „verrutschte Intelligenz“, wie Hegemann sie nennt, reorganisierte sich den Alltag mit halbillegalen Kneipen und Galerien, WGs und Hausprojekten in Kreuzberg und Schöneberg. Ihren publicityträchtigsten Ausdruck fand sie mit den atonal-Festivals. An der ohne Zweifel vorhandenen Werbewirksamkeit über die Stadtgrenzen hinaus beteiligte sich manchmal sogar der Berliner Kultursenator, 1982 mit immerhin 20.000 Mark. Geld gab es trotzdem nie zu verdienen, Hegemann mußte „jedesmal ein halbes Jahr arbeiten, um die Plakatschulden zu bezahlen“.
Selbst das letzte Festival 1990, von einem Zigarettenkonzern sehr zum Mißfallen alter Atonalisten mit 50.000 Mark gesponsert, erschlug die Veranstalter später mit den Folgekosten. Die Innenräume des Künstlerhauses Bethanien in Berlin-Kreuzberg mußten neu gestrichen werden.
Deshalb hätte Hegemann, der mit der Wiederbelebung des atonals zum Jahrtausendwechsel geliebäugelt hatte, die Neuauflage auch völlig anders angegangen. Er hätte versucht, sein Konzept an die Berliner Festspiele GmbH anzudocken, die JazzFest und Filmfestspiele veranstaltet.
Damit, glaubt er, wäre das Projekt nicht nur finanziell abgesichert, sondern auch der Tatsache Rechnung getragen, daß nicht nur Bands wie die Einstürzenden Neubauten inzwischen fest im Kulturestablishment verankert sind, sondern auch die Klänge, die sie und ihre Kollegen damals erforschten, längst in den Mainstream eingedrungen sind.
Schäumer dagegen versucht tapfer, die alte Untergrundatmosphäre neu zu erschaffen. Dazu hat er sich ins Internet geklinkt und vor allem auf den Seiten der ars electronica einiges gefunden. Nun, glaubt er, „ist für alle ein bißchen was dabei“.
Die Neubauten für die alten Haudegen, Kerosene, „um ein paar Kids zum Raven zu bringen“, die Elektronik-Institution Oskar Sala für deren Musiklehrer, und ein wenig Kunst für die allgemeine Kontemplation. Es ist der Versuch, so Schäumer, „die Avantgarde mit Techno-Acts und DJs zu mischen“. Beliebigkeit werfen ihm allerdings seine Kritiker vor, und fragen, ob es denn avantgardistisch sei, sich ein Programm aus der Preisträgerliste eines anderen Festivals zusammenzustellen. Auch der ehemalige Mitstreiter Hegemann meint, die „inhaltliche Auseinandersetzung“ sei nicht ausgereift.
Warum ausgerechnet jetzt wieder atonal? Der Kritisierte sieht das ganz pragmatisch. Als Termin für sein Remake hat Schäumer den Januar gewählt, weil dann in der Hauptstadt traditionell wenig los ist. In der Arena hat er optimale Voraussetzungen: Die freitragende, inzwischen denkmalgeschützte Industriehalle, die Franz Ahrens 1927 baute, bietet nicht nur einen leicht morbiden Charme, der ans alte Westberlin erinnert, sondern auch eine gute technische Ausstattung. Nur zu einer Matinee und einem Vortrag weicht man in den Roten Salon der Volksbühne aus.
Vor Monaten schon hat Schäumer bei Hegemann nachgefragt, ob er den Namen „Berlin atonal“ und das von der Designer-Ikone Neville Brody für das Festival '90 gestaltete Signet verwenden könnte. Er hätte es nicht tun müssen, Hegemann hat sich kein Markenzeichen eintragen lassen. Allzu wichtig wäre es wohl auch nicht gewesen. Hätte Hegemann nicht zugestimmt, erzählt Schäumer, „dann hätte ich das Festival auch anders nennen können“.
„Berlin atonal“: Ab heute bis 17. Januar in der Arena in Treptow
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