Wie ein Dorf Pokalsieger wird: Der Stürmer ist depressiv
Kulturbeutel
von Andreas Rüttenauer
Sein letztes Länderspiel hat er schon vor Längerem gemacht, sein letztes Spiel im DFB-Pokal ist noch nicht so lange her, und nicht viel länger her ist auch Philipp Lahms letztes Spiel in der Champions League. Bald wird er zum letzten Mal gegen Darmstadt 98 gespielt haben, gegen RB Leipzig und gegen den SC Freiburg. Der Kapitän des FC Bayern beendet nach der Saison seine Karriere als Fußballspieler. Er war gewiss ein guter Spieler und auch als Kapitän war er nicht schlecht, auch wenn nicht ganz klar ist, was einen guten Kapitän einer Fußballmannschaft eigentlich auszeichnet.
Ein gutes Verhältnis zum Trainer? Wahrscheinlich. Ein Händchen für den Umgang mit der Presse? Durchaus. Ein Chef auf dem Platz war er dagegen eher nicht. Trophäen hat er stets freundlich entgegengenommen und unfallfrei in die Höhe gestemmt. Wimpel hat er vor dem Anpfiff überreicht und entgegengenommen. Ja, er war ein guter Kapitän. Kaum einer wird dem widersprechen wollen. Jetzt braucht der FC Bayern einen neuen.
So richtig schwer ist das Kapitänsamt ja nun wahrlich nicht. Ein gewisser Mister Gidner, der als Klubchronist niederschrieb, wie es in England einst zum wundersamen Pokalsieg der Steeple Sinderby Wanderers gekommen ist, hat das so formuliert: „Im Fußball ist der Kapitän nichts weiter als ein gewöhnlicher Spieler auf der Liste, dessen hauptsächliche Qualifikation seine allseitige Beliebtheit ist, die sich entweder seiner nicht allzu ausgeprägten Intelligenz oder seiner Wortkargheit verdankt.“ Das hat der englische Schriftsteller J. L. Carr dem Ich-Erzähler seines Romans „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ ebenjenem Vereinsschreiber Gidner, in den Mund gelegt. Außerdem müsse ein Kapitän es beherrschen, sich für eine Seite eines Zehn-Pence-Stückes zu entscheiden.
In Carrs Roman, der von Dumont für den deutschen Markt ausgegraben und von Monika Köpfer gerade frisch übersetzt worden ist, wimmelt es nur so von fußballerischen Weisheiten dieser Art. Es ist ein Professor aus Ungarn, der ein paar Lehrsätze formuliert, an denen sich die Mannschaft orientiert. Der Stürmer ist depressiv, der Pfarrer der 547-Seelen-Gemeinde spielt mit, und der Kapitän ist ein ehemaliger Profi, der seine Karriere beendet hat, um sich seiner schwerkranken Frau zu widmen. Die erste Regel dieses wahren Philosophen namens Dr. Kossuth lautet: „Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände schauen.“
Dass die Dörfler das geschafft haben, kam ihnen selbst wie ein Wunder vor, ein fast ebenso großes Wunder wie der Pokalsieg, den sie nach Siegen über Aston Villa im Halbfinale und dem Finalerfolg gegen die erstmals am FA-Cup teilnehmenden Schotten von den Glasgow Rangers errungen haben. Dass danach das Leben in Steeple Sinderby seinen gewohnten Gang einfach weiterging, fast so als sei nichts Besonderes geschehen, das liest sich beinahe schon wie eine Botschaft in diesen Tagen, in denen in den Ligen die Meister ermittelt werden, die Aufsteiger und Absteiger. Ja, es kann irre Spiele, märchenhafte Spielzeiten geben. Aber das Wohl und Wehe einer Gemeinde, einer Stadt, einer Region hängt wohl eher nicht vom Erfolg des örtlichen Fußballklubs ab. Das Leben geht weiter, ob Abstieg oder Meisterschaft. Und der FC Bayern wird schon einen neuen Kapitän finden.
J. L. Carr, 1994 gestorben, der zu Lebzeiten seine Bücher selbst verlegt hat und ein ebensolcher Kauz gewesen sein mag wie die Protagonisten in seinem Provinzroman, hat ein Fußballbuch geschrieben, in dem der Hauptgegenstand, der Fußball, zur absoluten Nebensache erklärt wird. Beinahe schon ein Geniestreich.
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