: Wie die taz in Hannover für Chaos sorgte
Vor 30 Jahren gab ein Bericht über die Punker-Kartei der Polizei Anstoß für die berühmt gewordenen Chaostage in Hannover - mit Straßenschlachten und anderem Spektakel

Von Nadine Conti
Ein bisschen Schuld hatte die taz nord ja auch. Immerhin hat der Kollege Jürgen Voges damals den Anlass geliefert, für das, was später einmal als „Chaostage“ in die Stadtgeschichte eingehen sollte. Deren Höhepunkt ist jetzt auch schon wieder 30 Jahre her. Weshalb man Jüngeren vielleicht noch einmal erklären muss, was damals war.
Vom 3. bis zum 7. August 1995 lieferten sich Punks und andere Jugendliche, die aus dem gesamten Bundesgebiet und angeblich sogar aus dem europäischen Ausland angereist waren, in Hannover Straßenschlachten, die wochenlang die Abendnachrichten dominierten. Es entstanden ein paar ikonische, immer wieder gezeigte Bilder. Das in diesem Artikel zum Beispiel. Oder das des geplünderten Pennymarktes in der Schaufelder Straße.
Die Bilanz am Ende: 2000 Punks gegen 3500 Polizeibeamte. Rund 400 Verletzte, davon 180 auf Seiten der Polizei, hunderte von Festnahmen, die später zum Teil gerichtlich für unzulässig erklärt wurden und ein immenser Sachschaden. Plus: Ein Rücktritt des Polizeipräsidenten und ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss.
Wie es dazu kam, ist nicht ganz leicht zu beschreiben. Das war zuallererst die Geschichte mit der Punker-Kartei in der taz nord. Dem Kollegen Voges war eine interne Dienstanweisung der Polizei Hannover zugesteckt worden. Darin wurden sämtliche Dienststellen aufgefordert, Informationen zu „sog. Punkern“ an eine „Zentrale Nachrichtensammel- und Auswertungsstelle“ bei der Kriminalfachinspektion 7, der politischen Polizei, weiterzureichen.
Und zwar unabhängig davon, ob sich diese Bunthaarigen in irgendeiner Art und Weise strafbar gemacht hatten. Man wolle einen Überblick über die Szene gewinnen, hieß es. Das war allerdings schon 1982, also schlanke 12 Jahre vor der ultimativen Eskalation.
Die Veröffentlichung sorgte für einige Aufregung und stieß die Entstehung der Chaostage an. Die sollten ursprünglich vor allem diese Punker-Kartei ad absurdum führen, wie Mitbegründer Karl Nagel einmal im taz-Interview erzählte. Die clevere Idee: Wenn einfach ganz viele Punker von außerhalb in die Stadt kämen oder auch Leute, die sich bloß als Punker verkleideten, wäre die Kartei voller wertloser Daten und der Szene-Überblick hätte sich auch erledigt.
Chaostage gab es in Hannover 1983 bis 1985, auch in ein paar anderen Städten versuchte man etwas Ähnliches, doch schon in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ebbte der Trend wieder ab.
1994 wurde dann plötzlich zu einer Art Revival aufgerufen, bei dem es zu einigen Scharmützeln mit der Polizei kam. Weil viele Punker das Vorgehen der Polizei und die Presseberichterstattung darüber unmöglich fanden, wurde für 1995 dann erst recht noch einmal mobilisiert.
Auf den alten Aufnahmen des NDR lässt sich erahnen, wie die Grundstimmung war. Da sieht man, wie sich die Jugendlichen unten in der Passerelle, der tiefer gelegten Einkaufspromenade Hannovers versammeln, oben in der Fußgängerzone steht ein Ring von Polizisten, dahinter Passanten und Schaulustige, die Punks herunterschauen wie in ein Zoogehege.
Das Kamerateam steuert zielsicher auf Rentner*innen zu, denen die Empörung schon von weitem anzusehen ist. „Die müssen weg hier“, sagen die prompt. Und das ist vermutlich schon die netteste und sende-fähigste Variante.
Der Polizeieinsatz in diesen Tagen wird bis heute als „Deeskalationsstrategie“ charakterisiert. In Wirklichkeit – so stellte sich das Ganze jedenfalls später im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss dar – gab es nicht viel, was die Bezeichnung „Strategie“ verdient hätte. Die Polizei wurde von der massiven Mobilisierung schlicht überrascht und benötigte eine Ewigkeit, um darauf zu reagieren.
Die eingesetzen Polizisten waren nicht nur überfordert, sondern auch unzureichend ausgerüstet. Sie hielten sich mal zurück und knüppelt dann wieder los. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss nahm sogar die Hockeyausrüstungen in Augenschein, die einige Beamte in Ermangelung professioneller Ausrüstung trugen, andere liehen sich Ausrüstungen von den als Verstärkung angerückten Kollegen aus anderen Bundesländern.
Legendär wurden auch die Funksprüche aus den Einsatzprotokollen, die an die Hannoversche Allgemeine Zeitung durchgestochen wurden: „Ist das hier eine Landeshauptstadt oder die Augsburger Puppenkiste?“ Oder „Wenn ihr noch ‚ne Cola braucht, könnt ihr auch hingehen.“ Diese fielen in den Stunden, in denen der Penny-Markt in der Schaufelder Straße geplündert wurde – einem Vorgang, dem die Polizei über weiter Strecken bloß zusah.
Was mit kleineren Auseinandersetzungen rund um den Bahnhof begonnen hatte, verlagerte sich danach bald in die Nordstadt. Beim Fährmannsfest – einem Festival, das bis heute am ersten Augustwochenende stattfindet – besetzten Punks einen Bierwagen und forderten Freibier für alle. Nachdem die Polizei diese Versammlung auseinander geknüppelt hatte, verlagerten sich die Auseinandersetzungen weiter in die Straßen rund um das seit 1987 von Autonomen besetzte Sprengel-Gelände, einer ehemaligen Schokoladenfabrik. Zweieinhalb Tage lang lieferte sich die Polizei hier mit den Punks ein Katz- und Mausspiel.
Wobei das Ganze natürlich auch ein Medienspektakel war und ist: Schon vorher hatte die Boulevardpresse behauptet, die Punker wollten die Stadt in Schutt und Asche legen. Und jedes Bild einer brennenden Barrikade diente der Bestätigung. In Wirklichkeit blieben weite Teile der Stadt vollkommen unbehelligt und intakt.
Funkspruch der Polizei während der ersten Chaostage
Die Chaostage sorgten auch in der linken Szene für Ärger und Diskussionen. Viele fanden die Punks eigentlich zu unpolitisch, wollten aber nicht unsolidarisch sein – und hatten am Ende das Problem, dass sie natürlich für die Aktionen in Mithaftung genommen wurden, weil konservative Kräfte forderten, die besetzten Häuser zu räumen und Jugendzentren dicht zu machen.
Heute sind die „Tatorte“ von damals überwiegend etablierte Kulturzentren mit ordentlichen Mietverträgen und städtischen Zuschüssen: Das Sprengelgelände genauso wie das Café Glocksee und das Unabhängige Jugendzentrum Kornstraße.
Nur der – eher den Straßenpunks zugerechnete Treffpunkt „Kopi“ kämpfte in den letzten Jahren um seinen Standort und sein Überleben. Attackiert werden sie alle immer mal wieder. In letzter Zeit verstärkt durch die AfD-Fraktion im Stadtrat, die ihnen Gelder streichen möchte und durch Jungnazis, die einbrechen und randalieren.
Und der Punk? Erreicht quasi Museumswert. Es häufen sich die Nostalgie-Veranstaltungen und Bildbände, die ihm Denkmäler setzen – als Musikstil und als Lebensgefühl.
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