piwik no script img

Wie Romane zu lesen sind

■ Die Ausführungen des Meisters des humoristischen englischen Romans des 19.Jahrhunderts erschienen erstmals in 'Fraser's Magazine‘, September 1843.

William Makepeace Thackeray

Was das Lesen von Romanen unserer Zeit betrifft, so würde ich den Liebhabern dieser lehrreichen Werke gern den einfachen Rat geben, immer zuerst einen Blick auf das Ende zu werfen, um zu sehen, was aus den einzelnen Personen wird, bevor sie sich die Mühe machen, das gesamte Werk zu lesen und ein Interesse für die darin beschriebenen Personen zu entwickeln. Warum sich für eine Person interessieren, von der man weiß, daß sie am Ende des dritten Bandes eines elenden Todes sterben wird? Welchen Zweck könnte es haben, sich sinnlos unglücklich zu machen und zu verfolgen, wie die Anzeichen der Schwindsucht bei Leonora immer deutlicher werden, oder Antonios Weg bis zu seiner unabwendbaren Ermordung nachzuvollziehen?

Wenn ich früher in einem Roman einer dieser vom Schicksal gezeichneten Kreaturen begegnete und aus dem Aufbau der Geschichte zu ersehen war, daß die fragliche Person einen Großteil der Aufmerksamkeit des Lesers beanspruchen würde, dann schlug ich jedesmal sofort und angewidert das Buch zu, denn meine Gefühle sind mir denn doch zu kostbar, als daß ich sie mir für drei Pence pro Band unnötig in Aufruhr versetzen ließe. Aber auch dann war es oft schon zu spät. Darum bin ich der Meinung, daß es sehr viel ratsamer ist, sofort das Ende eines Romans zu studieren, und wenn ich lese: „Auf dem Kirchhof von Brentford erhebt sich ein neuer güner Hügel mit einem bescheidenen Grabstein, auf dem der Name Anna Maria eingemeißelt steht“ oder: „Le jour apres on voyait sur les dalles humides de la terrible Morgue le corps virginal et ruisselant de Bathilde“ oder einen ähnlichen Satz, dann schlage ich sogleich das Buch wieder zu und weigere mich, meine Gefühle unnötig in Aufruhr bringen zu lassen; denn an diesem Punkt mache ich mir nicht die Bohne aus Anna Marias Schwindsucht oder Bathildes Selbstmord. Ich habe nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft und kann ohne weiteres darauf verzichten. Wenn Sie die Gabe der Prophetie hätten und man Ihnen vorschlagen würde, Sie mit einem Mann bekanntzumachen, von dem Sie genau wüßten, daß er vorhat, Sie um Geld zu bitten oder daß er unfehlbar gehängt werden oder Ihnen auf irgendeine andere Weise Ärger machen wird, würden Sie sich dann nicht weigern, ihn kennenzulernen? Das gleiche gilt auch für Romane. Das Buch des Schicksals der Helden und Heldinnen findet sich am Ende des dritten Bandes, und man braucht sich nur die Mühe zu machen, dort nachzusehen, um zu wissen, ob es sich lohnt, ihre Bekanntschaft zu machen oder nicht. Was mich betrifft, so habe ich volles Verständnis für den Mann, der Cordelia zum Leben erweckte (wer war es - Cibbur oder Sternhold und Hokins?). Ich hätte Romeo im fünften Akt schnellstens eine Magenpumpe geholt. Für Mrs.Macbeth habe ich nicht das geringste bißchen Mitleid; der General jedoch hätte, wenn es nach mir ginge, diesen angeberischen Macduff (der immer so aussieht, als käme er direkt aus einem Tabakladen) vernichten oder ihn auf jeden Fall in Sücke säbeln, entwaffnen und durchbohren müssen; dann wäre Mrs.Macduff mit all ihren Kleinen aus der Kulisse gekommen und hätte gesagt, das angebliche Blutbad sei eine verleumderische Erfindung der Zeitungen und sie seien alle gesund und wohlauf. Die wirklich Bösen sollte man ruhig und gnadenlos massakrieren, und was das betrifft, so hat mir das deutsche Märchen vom Rotkäppchen immer schon gut gefallen; diese Version ist tausendmal besser als die wilde Geschichte, die wir in England erzählen, denn nachdem der Wolf Rotkäppchen und ihre Großmutter verschlungen hat, kommen zwei Jäger, die ihm den Bauch aufschneiden und die alte Dame und das junge Ding herausholen, womit alles zum Glücklichen gekehrt wird.

Übersetzung: Hans Harbort

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen