Werder Bremen in Abstiegsnot: Der Star ist der Coach
Bremen spielt eine grottenschlechte Saison. Trainer Florian Kohfeldt übernimmt nach wie vor die Rolle als Werders Wunderwuzzi.
Im Zuge der Klima-Debatte hat der Begriff Kipppunkt Karriere gemacht – als der Moment, in dem eine bis dahin gradlinige Entwicklung ins Rutschen kommt. Werder Bremen scheint diesen heiklen Moment erreicht zu haben. Obwohl die Punktausbeute auch vorher, gemessen am Saisonziel eines Europa-League-Platzes, dürftig war, agierte das Team lange auf Augenhöhe mit den Gegnern und überzeugte oft auch spielerisch. Nach der überraschenden Heimniederlage gegen den Tabellenletzten aus Paderborn (0:1) folgten die Partien bei Bayern München (1:6) und gegen Mainz (0:5), in denen sich die Bremer nicht konkurrenzfähig zeigten.
Die Leistung gegen Mainz war wesentlich desolater als bei der 0:3-Heim-Niederlage gegen den FC Augsburg vor gut zwei Jahren, die Trainer Alexander Nouri den Job kostete und den Weg für Florian Kohfeldt frei machte. Doch während Nouri damals einsam abging, wurde Kohfeldt nach dem Mainz-Debakel in der Fankurve bejubelt.
Nouri, der jetzt als Co-Trainer von Jürgen Klinsmann bei Hertha BSC arbeitet, wurde angelastet, dass Vereinslegende Claudio Pizarro und der beliebte Co-Trainer Florian Bruns gehen mussten, und er es nicht geschafft hatte, die Mannschaft spielerisch weiterzuentwickeln. Unter Kohfeldt ist nicht nur Pizarro zurückgekehrt, er hat dem Werder-Spiel auch Schritt für Schritt seinen Stempel aufgedrückt, der für viel Anerkennung in der Liga sorgte: durchaus variationsreicher Kombinationsfußball mit viel Ballbesitz.
Diesen Stil schien das Team, das in der letzten Saison den Europapokal nur hauchdünn verpasst hatte, so verinnerlicht zu haben, dass selbst der Abgang des überragenden Max Kruse sehr entspannt aufgenommen wurde. Doch dann ging gleich der Saisonstart gegen Fortuna Düsseldorf daneben und es begann zeitgleich eine Verletzungsserie, die insgesamt 14 Spieler zeitweise zum Aussetzen zwang. In der Abwehr brachen gleich alle Stützen weg, sodass Kohfeldt den 30-jährigen Debütanten Christian Groß aus der zweiten Mannschaft vorübergehend zum Stammspieler machen musste.
„Unfassbare Wut“
Noch bis vor wenigen Wochen bescheinigte Kohfeldt der Mannschaft, die Misere „überragend“ anzunehmen. Nach dem Mainz-Spiel verspürte er dagegen „eine unfassbare Wut“ und monierte fehlende Bereitschaft. Vieles spricht dafür, dass er ein Opfer seiner eigenen Talente geworden ist. Die gehen weit über das Coachen einer Mannschaft hinaus. Als fähigster Kommunikator im Verein ist er auch der Erklärer in allen Lebenslagen – nach innen wie außen. Dazu präsentiert sich der ehemalige Torwart, der in der Nachbarstadt Delmenhorst – einem Underdog unter den norddeutschen Städten – geboren wurde und als 19-Jähriger zu Werder kam, glaubhaft als glühender Fan der Grün-Weißen.
Das Gesamtpaket macht Kohfeldt zum einzig verbliebenen Star der Mannschaft – und das ist ein Problem. In dem Moment, in dem sein Plan und seine Lösungen nicht mehr greifen, ist die Mannschaft wehrlos, schafft sie es nicht, aus sich heraus die Erosion zu stoppen, löst sie sich in ihre Einzelteile auf. Das scheint Kohfeldt erkannt zu haben. Vor dem Spiel gegen den direkten Abstiegskonkurrenten aus Köln geht er erkennbar auf Distanz zur Mannschaft, offenbar, um sie zu einer Reaktion zu zwingen.
Noch schwieriger wird es, kurzfristig auf das zweite Kernproblem zu reagieren. Fast in jedem Spiel wirken die Gegner kräftiger und schneller als die Bremer. Auch wenn das Fehlen der robusten Ömer Toprak, Niclas Füllkrug, Kevin Möhwald und Josh Sargent im physischen Bereich besonders zum Tragen kommt, der Kader ist in diesem Bereich nicht ausgewogen zusammengestellt.
Egal wie das Spiel gegen die Kölner, die beim Auswärtssieg in Frankfurt gerade ein robustes Nervenkostüm bewiesen haben, ausgeht, die viel beschworenen Mechanismen der Liga werden so schnell in Bremen nicht greifen. Die Klubführung um Sportvorstand Frank Baumann glaubt weiter an eine lange Strecke mit Kohfeldt, und für die Stimmung unter den Fans spricht ein Facebook-Post der Fan-Kneipe „Eisen“: „Die Summe anfangs noch halbwegs kontrollierbarer Einzelkomponenten hat einen dieser fatalen Kipppunkte überschritten“, heißt es da. „Die üblichen Verdächtigen verlangen nun schwer erregt nach Satisfaktion – aber bitte: Halte die Nase weiter in den Wind! Eine Menge Leute würden mit dir zur Not auch in die zweite Liga gehen. Die schreien hier nur nicht so laut.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern