Werben für das Handwerk: Zur Discomusik Holzbretter sägen
Beim Azubi-Marketing spielen die sozialen Medien eine wachsende Rolle. Influencer:innen versuchen zu vermitteln, wie cool das Handwerk ist.
Julian-Benedikt ist Schreiner und mit 44.000 Followern Gold wert für das Handwerk, das händeringend Auszubildende für die Betriebe sucht. „Ich war im 6. Semester an der Uni und ich war so unglücklich mit dem Studium“, verkündet er in seiner Werkstatt in einem Video auf Instagram. Eigentlich wusste er schon „seit der 10. Klasse“, dass er Schreiner werden wollte. Aber ein Verwandter habe ihm eingetrichtert: „Eh, wie dumm kann man sein! Im Handwerk machst du dich doch kaputt.“
Aber Julian schmiss sein Studium, ist heute Schreiner und Influcencer und froh, dass er „auf sein Herz“ gehört hat, wie er sagt. Zur Dancefloor-Musik sägt er Holzbretter mit wirklich komplizierten Maschinen und zeigt im Fitnessstudio seinen muskulösen Körper.
Diverse Influencer:innen werben derzeit für das Handwerk. Wenn das Rollenmodell dann auch noch Abitur hat und sich trotzdem wie Julian-Benedikt gegen ein Studium und für eine betriebliche Ausbildung entscheidet, zielt er damit auf eine große Gruppe: Fast die Hälfte der jungen Leute zwischen 18 und 21 Jahren hat heute die Hoch- oder Fachhochschulreife. Experten vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wissen, dass es auch die Eltern sind, die wollen, dass der Nachwuchs nach dem Abi studiert, und denen es peinlich wäre zu sagen, dass Sohn oder Tochter „nur“ Handwerker sind. In einer noch unveröffentlichten Studie zur Berufsorientierung des BIBB erklären 60 Prozent der befragten Gymnasiast:innen, dass sie davon ausgehen, dass ihre Eltern die Aufnahme eines Studiums von ihnen erwarten.
Nicht nur Influencer:innen betreiben einen Imagewandel auf Instagram und Co, auch die Betriebe selbst suchen nach Wegen, darüber Nachwuchs für ihre Lehrstellen zu finden. „Die sozialen Medien spielen bei der Werbung um Azubis eine wachsende Rolle“, sagt Christian Henke, Geschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf. Auf seinem Schreibtisch landen jede Woche mehrere Angebote von Berater:innen, die Betriebe und Verbände dabei unterstützen wollen, sich auf den sozialen Medien am besten zu positionieren. Diese Kanäle sind für suchende Betriebe attraktiv, weil sie erstens das Gebiet sind, wo sich junge Leute aufhalten und weil sie zweitens über viele Daten der User:innen verfügen, die es ihnen erlauben, den Unternehmen ein spezifisches Zielgruppenmarketing anzubieten.
Zielgruppengenau ausspielen
„Bei Schaltung einer Anzeige zur Werbung von Azubis in den sozialen Medien kann man nach eigenen Suchbegriffen oder unter Nutzung einer zur Verfügung stehenden Liste differenzieren und so die Zielgruppe ganz individuell gestalten, nach Interessen, Hobbys, Schulabschluss und so weiter“, berichtet Henke. Nur bei der Werbung um Minderjährige setze der Gesetzgeber Grenzen, dort dürfte etwa nicht nach Alter, Geschlecht und Interessen differenziert werden.
Wer also etwa eine:n Azubi für seinen Betrieb im Elektrohandwerk in Düsseldorf sucht, muss nur nach jungen Leuten in derselben Region in einer bestimmten Altersgruppe mit einem Interesse für Technik und etwas Sportlichkeit fahnden lassen, um eine Anzeige zielgruppengenau ausspielen zu können.
Die Preise für die Stellenangebote seien „erschwinglich“ sagt Henke. Wenn die Anzeige 1.000-mal User:innen aus der Zielgruppe ausgespielt wird, kostet das den sogenannten Cost-Per-Mille-Preis (CPM), der stark variiert. Bei Instagram kann er zum Beispiel 5 Euro betragen, wie die Beraterfirma Advertace in einem Beispiel im Internet vorrechnet.
Wenn das Angebot den User:innen mindestens zweimal gezeigt werden soll, bedeutet das bei einer regional eingegrenzten Zielgruppe von vielleicht 10.000 jungen Leuten, dass mindestens 20.000 Sichtkontakte, sogenannte Impressions, nötig sind. Damit werden 100 Euro an Kosten fällig. Klickt jeder 100. der angepeilten User:innen auf das Angebot, um auf die Karriereseite des Unternehmens weitergeleitet zu werden, so liegt die Click-Through-Rate (CTR) bei eins. Entscheidend ist, wie viele Leute dann tatsächlich eine Bewerbung schicken.
Organisch verbreitete Auftritte
„Bei 100 Klicks auf die Website ist eine Conversionrate von ab 2 Prozent in Ordnung“, sagt Nadine Strein. Strein berät Unternehmen beim Azubi-Recruiting im Netz. Schicken 2 Prozent eine Bewerbung, würde das im genannten Beispiel bedeuten, jede Bewerbung, über die sozialen Medien gewonnen, kostete 25 Euro an Werbebudget, etwas schematisch gerechnet. Wer dann tatsächlich eine Lehre beginnt, ist damit natürlich noch lange nicht gesagt.
Die Berater:innen beim Azubi-Recruiting helfen den Betrieben meist mit einem Gesamtpaket. Zuerst geht es darum, den Auftritt der Unternehmen im Netz zu optimieren. Denn der Auftritt der Betriebe bei Facebook, Instagram oder Tiktok sollte sich erst mal „organisch“ verbreiten, wie es in der Branche heißt, also ohne bezahlte Anzeigen, sondern nur durch das Ausspielen über den Algorithmus, der den Post als relevant für bestimmte Zielgruppen erkennt. Strein hilft den Betrieben unter anderem beim Aufbau der Texte und der Formulierung des Ausbildungsangebots, damit das Unternehmen „besser im Internet gefunden werden kann“, sagt sie. Bezahlte Anzeigen zu schalten, ist dann der nächste Schritt.
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) startete gerade auf Tiktok eine Imagekampagne für Lehrstellen in Industrie und Handel. In dem Video „Ein Tag an der Berufsschule“ sieht man, wie sich die Azubis morgens fröhlich begrüßen (Untertitel: „meet and greet“), dann während des Unterrichts irgendwas aufschreiben, in der Pause „coole Tiktok-Videos checken“, am Nachmittag „irgendwas mit Computern“ machen“, bevor es „endlich wieder Freiheit“ gibt. Die Azubi-Kampagne vermittele „jungen Leuten das Lebensgefühl Ausbildung“, sagt Mathias Rabenau, Referatsleiter bei der DIHK. Inwieweit allzu sehr auf cool getrimmte Werbung allerdings hilft bei der Lehrlingsakquise, das ist die Frage.
Eine Befragung von rund 4.300 Schüler:innen und Auszubildenden zu den „Azubi-Recruiting-Trends 2023“, durchgeführt von der Beratungsfirma HR-Präsenz, ergab, dass bei etwa der Hälfte der Befragten die sozialen Medien bei der Lehrstellensuche keine Rolle spielten. Die Teilnehmer:innen erklärten, dass ihnen Betriebsbesichtigungen, Berufsmessen und Schüler:innenpraktika nach wie vor sehr wichtig seien. „Man muss vorher ein möglichst reales Bild von der Wirklichkeit im Beruf haben, sonst brechen die jungen Leute die Ausbildung ab“, sagt Henke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin