: Wer zuerst sieht,ist Sieger
■ 1. Folge unseres Bildungsprogrammes "steh nicht so blöd da": Filmvater Mars
Bion Steinborn: Gibt es einen Unterschied zwischen Film und Kino?
Paul Virilio: Da muß ich mit Ja antworten, wie es Godard anläßlich des CESAR-Trubels in Berlin sagte, als er eine ähnliche Frage gestellt bekam: Ich mache kein Kino, ich mache Filme. Der Unterschied liegt im Film selber, im Filmmaterial, im Medien-Träger. Für meine Arbeit jedoch ist der Unterschied unwichtig, er trifft nicht direkt auf sie zu. Was mich interessiert ist da schon eher das Photogramm (Meßbild) oder die Daten des Photogramms. 20 Bilder in der Sekunde oder 30 oder 60, das ist wichtig. Es ist mir völlig egal, aus welchem Material der Bildträger ist, ob aus Zelluloid oder Elektronik, das heißt, ob das Bild materiell oder immateriell ist. Das Wesentliche ist für mich die Geschwindigkeit des Bildablaufs, das heißt, das Wichtigste ist das Photogramm oder Videogramm. Ich interessiere mich weder für die Kinematographie, noch für die Videographie und Infographie. Ich interessiere mich für die Geschwindigkeit und für die Leistungen der Geschwindigkeit im Bereich des Automobils, des Flugzeugs oder im audiovisuellen Feld. Der Film verdankt sich dem Sofortbild, dem unbeweglichen Bild (la foto instantane), denn ohne Bild gäbe es kein Kino, keine Kinematographie oder weitere Techniken der Zukunft. Sie nämlich sind die Resultate der Geschwindigkeit, das heißt, sie sind die Konsequenzen der Geschwindigkeit auf das Verhalten, die Wahrnehmung und die Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und ihren Örtlichkeiten. Mich interessiert die Wirkung dieser Schnelligkeit auf die Menschen.
Sie haben ein Buch geschrieben, ein sehr interessantes wie ich meine, in welchem Sie einen genuinen Zusammenhang zwischen Krieg und Film als Wahrnehmungsmittel sehen. Sie stellen in diesem Zusammenhang dann die These auf, ohne Krieg keine Entstehung des Films/Kinos sowie ohne eine Entwicklung des Films, keine moderne Kriegsführung. Glauben Sie selbst daran, daß das so ist, oder handelt es sich hierbei nur um interessante Analogien?
Natürlich glaube ich an diese Theorie. Ich glaube an das, was ich schreibe. Das ist doch klar. Jede Kriegshandlung ist zunächst das Anvisieren eines Zielobjekts mit Kimme und Korn. Jeder Krieg ist zuerst die Wahrnehmung von Zielen. Es gibt keine Funktion der Waffen ohne Funktion der Augen. Es gibt immer eine Übereinstimmung zwischen dem Auge und der Waffe. Man darf nicht vergessen, daß das militärische Phänomen zuallererst ein Wahrnehmungsphänomen ist. Der Krieger ist zuerst ein Voyeur. Er ist eigentlich derjenige, der besser sehen will als die anderen oder schneller als die anderen. Am Anfang der militärischen Entwicklung finden wir die Kavallerie. Warum? Sie war die schnellste militärische Formation, und, vor allem, sie sah am besten, weil sie am höchsten saß, und konnte am weitesten sehen. Das zeichnete die mongolischen Reiter aus. Außerdem wurden alle Hügel und Höhen im Gelände als erstes von Militärs besetzt, um sehen zu können, um vorauszusehen.
Das erste wirkliche Massenmedium ist der Hügel. Derselbe Hügel, auf dem die Indianer stehen und beobachten. Später dann hat man Wachtürme gebaut, um noch weiter sehen zu können. Es folgte der Luftballon, auf dem ein Fotoapparat montiert war, der während des amerikanischen Bürgerkriegs eingesetzt wurde. Dann folgte im ersten Weltkrieg das Flugzeug mit der ersten Filmkamera, und heute, um noch schneller zu sein, baut man Raketen, die mit Video ausgerüstet sind - die cruise missiles zum Beispiel und Fernsehsatelliten und Nachrichtensatelliten. Es gibt also keinen Krieg ohne eine Kontrolle der Wahrnehmungsfelder des Feindes.
Natürlich auch nicht ohne Tarnung und Täuschung. Man kämpft auch mit der Feuerkraft, die man zur Verfügung hat, aber zuerst mit der Repräsentation von Macht und mit ihrer bildlichen Darstellung. Die Krieger sind zuerst Männer der Darstellung - die Helden des Mittelalters mit ihren martialischen Rüstungen. Überhaupt alle Arten von Kostümierungen und Bemalungen, so auch die Bannerträger und ihre Fahnen und Abzeichen, alles dies sind bewußt hergestellte Bilder, um den Feind einzuschüchtern und zu erschrecken. Jeder Krieg ist daher zuerst ein Krieg der Bilder und erst dann ein Krieg der Waffen. Es ist nicht zu verstehen, daß man dies nicht sieht und immer die Waffen in den Vordergrund stellt. Es gilt immer zuerst, den Feind zu beeindrucken und ihm Furcht einzuflößen, bevor man zuschlägt. Man hat vergessen, daß der Krieg zuallererst die Verwaltung und Organisation von Blicken ist. So ist er am leistungsfähigsten.
Die Astronomen waren die ersten die ein Fernglas benutzt haben, dann waren sofort die Militärs da. Genauso existiert die Wissenschaft der Kartographie nicht ohne den Krieg. Die Entwicklung der Landkarte ist notwendig gewesen, nicht allein durch die Entdecker von Kontinenten und Ländern, sondern vor allem auch durch die Militärs. Die Militärs benötigten dringend diese Darstellungen des Geländes und der Länder, um Krieg führen zu können, um beim Feind überhaupt eindringen zu können. Man kann hierfür mehrere Beispiele anführen, zum Beispiel die Landkarten von Gassini. Diese Karten wurden später dann durch den Film ersetzt. Um einen Krieg zu führen waren die Landkarten nicht mehr ausreichend.
Die Artillerie des 19.Jahrhunderts konnte noch mit Karten arbeiten, aber danach war das nicht mehr möglich. Das Gelände änderte sich ständig, besonders dann nach dem 1.Weltkrieg, durch die Wirksamkeit der neuen Explosivwaffen. Es wurde eine neue Art von Gedächtnis, eine andere Art der Speichermöglichkeiten von Daten notwendig, denn so kam es zu den sogenannten Erkennungsflügen oder Beobachtungsflügen, und man produzierte Filme, Filme, Filme. Film im Sinn von Zelluloid.
Bevor so große Filmemacher wie Vertow die Kamera mit einem Fahrzeug benutzt haben, hatten es bereits die Militärs getan. Es waren also die Militärs, die das sogenannte Bewegungskino entdeckten, denn sie hatten es schon lange vor Vertow gemacht. Das ist „cinema verite“. Vertows so berühmtes KINOAUGE (auf das Eisenstein immer die FILMFAUST legen wollte - Anmerkung d.Gesprächspartners) kam erst viel später als die militärische Anwendung. Hier liegt eine wenig bekannte Entwicklungsgeschichte des Films. Was ich in meinem Buch versucht habe auszudrücken (GUERRE ET CINEMA 1 LOGISTIQUE DE LA PER CEPTION, EDITIONS DE L'ETOILE, Paris 1984) ist, daß die Kamerabewegung - nicht die Bewegung auf dem Stativ, sondern das Travelling oder die Kamera auf anderen beweglichen Fortbewegungsmitteln -, die von Freyniot und Lumiere entdeckt wurde, kurz darauf von den Militärs genutzt und die Kamera in Flugzeugen verwandt wurde. Erst dann kam Dziga Vertow mit seinem bewegten Kino, seinem Kino der Wirklichkeit. Wenn das Kino also Bewegung sein soll, dann verdankt es dem Militär sehr viel, weil dies Entscheidendes dazu beigetragen hat - im 1.Weltkrieg von 1914-1918.
Wenn man dies mit heute vergleicht, kommt man zu gleichen Folgerungen. Wenn ich heute zum AERO-SALON von Les Bourges gehe, dann sehe ich dort als wesentlichste Neuerung diverse elektronische Materialien wie Video, Laser, Thermographie. Sie sind das wichtigste Ereignis dieses Salons. Man sieht dort nur, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat, und das sind diese elektronischen Materialien, da es in diesen zwei Jahren keine neuen Flugzeuge gegeben hat - außer dem „unsichtbaren Flugzeug“. Aber das kann man nicht sehen, eben weil es unsichtbar ist. Man sieht dort nur Wahrnehmungsmaterial. Material zur Erfassung von militärischen Zielen - für Hubschrauber, Raketen usw. Also: die Geschichte des Films kann nicht von der Geschichte des kriegerischen Blicks getrennt werden. Dieser Satz ist im gleichen Sinne zu verstehen wie der Satz von Michel Foucault: „Die Geschichte der Polizei kann nicht vom Blick des Polizisten getrennt werden“.
Das Gespräch mit Paul Virilio führte Bion Steinborn 1987 in Paris für 'FILMFAUST‘, Zeitschrift für den internationalen Film (Fortsetzung folgt).
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