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„Wer hört mich denn?“

Die Waffen stecken in Wahrheit nicht dahinter. Und die Computerspiele sind nur Symptom. Die Tat von Erfurt verweist auf die Verzweiflungsnähe, die unsere Kommunikationsgesellschaft erzeugt

von PETER FUCHS

Die Frage nach dem Warum wird vieltausendfach gestellt. Sie fragt einerseits nach Ursachen, die in Erfurt diese furchtbaren Wirkungen zeitigten. Sie lechzt, wenn man so will, nach kausalen Erklärungen. Andererseits ist sie allem Herkommen nach eher der Ausdruck einer tiefen, existenziell gestimmten Klage, die keine Antwort erwartet und auf die es keine Antwort gibt, seit Hiobs Tagen nicht. Manches Sterben, manches Leiden lässt sich nicht in die Welt des Sinns, in der wir unser Dasein fristen, einordnen.

Das Warum, auf das die Massenmedien reagieren, ist das der ersten Art. Erklärungen werden gesucht, und weil sich keine finden, stellt sich eine Art Stottern ein, die unentwegte Wiederholung: Es ist schlimm, es ist schlimm, es ist schlimm. Dazu passend, greift die Wut der Detaillierung um sich, eine fortwährende Ausarbeitung und Variation desselben, die noch den Grundschullehrer in Schleswig-Holstein danach fragt, was er denn gefühlt hätte, wenn ihm zugestoßen wäre, was in Erfurt zu erdulden war. Die Frage nach dem Warum, mit der sich Ohnmacht und Verzweiflung ohne Hoffnung auf Antwort ausdrückt, wird umgesetzt auf die Frage nach dem Verlauf der Tat, nach den beteiligten Personen und deren Innenwelten, nach Motiven, die individuell sind und deshalb nahezu beliebige Spekulation ermöglichen. Kurz: Das Wie und Was des Geschehenen wird unaufhörlich entfaltet. Theorien müssen dazu schweigen, da sie (wie universal sie daherkommen mögen) niemals Erklärungen für historisch kompakte Singularitäten liefern können.

Man kann allerdings, wenn es um Theorie geht, deren Geschäft die Abstraktion ist, sich danach fragen, welches denn wohl die sozialen Bedingungen sein mögen, unter denen Gewalt dieses Typs begünstigt werden könnte, die (wenn man auf Ethymologisches und auf den malayischen Herkunftskontext des Wortes Amok achtet) an Opiumrausch, an Rach- und Ruhmsucht, an Blindwütigkeit geknüpft war, an ein herumirrendes Töten, dem nicht durch Sprache, durch Besänftigung, durch Kommunikation beizukommen ist, sondern nur durch ein Gegen-Töten, das sich durch das Selbsttöten der Amokläufer zumeist erübrigt.

Das schließt nicht aus, dass wie im hier diskutierten Fall der Druck zur eigentlichen Explosion langsam aufgebaut wird, ja, dass sorgfältige Planung, gar Übung im Spiel ist. Das passt zu Vorstellungen, die behaupten, dass der Einsatz körperlicher Gewalt (und immer dieses Typs) an ein langfristiges Versagen von Kommunikation und auf langsam sich darauf einspielende psychische Strukturen gebunden ist – Versagen dann im Doppelsinn dieses Wortes: Kommunikation versagt (und an diese Stelle tritt Aktion, so wie jemand, der nicht gehört wird, mit der Faust auf den Tisch schlägt), und sie versagt jemandem etwas.

Dieses zweite Versagen bezieht sich darauf, dass in jeder Kommunikation auch die Frage nach der Akzeptanz oder nach der Verweigerung der Annahme des mitgeteilten Sinns und damit auch nach der Akzeptanz der Person gestellt wird. Schon allein das Ausbleiben einer Antwort, einer Reaktion, eines Nickens, irgendeiner Bestätigung sorgt für schnelle Irritationen, für Nachfragen, für ein Insistieren und Wiederholen. Man kann in ethisch fragwürdigen Krisenexperimenten dafür Sorge tragen, dass jemand kommunikativ nicht berücksichtigt wird. Der Effekt wird Unverständnis und Wut sein. Im Alltag funktioniert die Drohung „Ich rede nicht mehr mit dir!“ auf gleiche Weise, und ebendeshalb ist sie kaum durchhaltbar. Wer sofort überprüfen möchte, ob dies stimmt, kann beim nächsten Telefongespräch alle „Hhmmms … Ouiis … Achs …“ weglassen und wird erleben, dass sofort besorgte Rückfragen folgen: „Bist du noch dran?“ – „Hörst du mir noch zu?“

Das sind allerdings harmlose Fälle, die nur dann Probleme aufwerfen, wenn Akzeptanz systematisch verweigert wird, wenn Leute erleben, dass sie nur in Ausnahmelagen auf die Annahme ihrer Sinnofferten (und damit auch auf die Akzeptanz ihrer selbst) rechnen können. Dann tritt auf, was in der systemtheoretisch orientierten Soziologie eine Inklusion/Exklusion-Krise genannt werden könnte. Dieses Schema von Einschluss und Ausschluss befindet sozial darüber, in welchen Maßen und wie Menschen in der Kommunikation als relevant behandelt werden. Es hat mit dem zu tun, was man klassisch Partizipation (oder Methexis) genannt hat, mit der Bedeutsamkeit, die jemandem beigemessen oder entzogen wird. Denkbar wäre es auch, von einer Krise der Adressabilität zu sprechen, wenn gemeint ist, dass jeder und jede für Kommunikation adressabel sein muss, um im genauen Sinne überleben zu können. Vieles von dem, was wir alltäglich tun, bezieht sich darauf, uns adressabel zu halten: vom Duschen, Kämmen, Fingernägelreinigen bis hin zur Sprache, die wir in bestimmten Sozialkontexten wählen, oder dem Körperverhalten, das wir für angemessen halten, in der Disko, auf Friedhöfen oder in Zeitungsredaktionen.

Mitunter aber wird Adressabilität verweigert, also: versagt. Wenn dann Instanzen nur in geringem Maße zur Verfügung stehen, die dieses Versagen kompensieren könnten, zum Beispiel peer-groups, die sicherstellen, dass man akzeptiert wird in Hinsichten, in denen man sonst nirgends akzeptiert wird, treten ebenjene Krisen auf. Ein Ausdünnen, ein fading-out der Akzeptanz in Kommunikation und die zunehmende Schwierigkeit, sich anderswo Akzeptanzen zu organisieren, führt – so die These – dazu, dass das damit konfrontierte Bewusstsein mehr und mehr dazu genötigt wird, sich mit sich selbst zu befassen. Es kann nur noch auf eigenen Erinnerungsbeständen operieren oder die eigenen Erinnerungsbestände durch Referenz auf Anregungen ersetzen, die Akzeptanz simulieren, Computerspiele beispielsweise. Dabei mag so etwas entstehen wie ein phantasmatisches Bewusstsein, eine von kommunikativer Außenkontrolle weitgehend abgekoppelte, sozusagen Echo-freie psychische Organisation. Das kann man dann als Soziologe dahingestellt sein lassen, aber immerhin darauf verweisen, dass es Lebenszeiten hoher Akzeptanzempfindlichkeit gibt, vor allem die Jugend mit ihren wilden Krisen, in deren Verlauf das Einscheren in sozial verträgliche und psychisch befriedigende Adressabilität erst gelernt wird.

In einer verfremdenden, derridaesken Wendung ließe sich formulieren, dass die Signatur des Individuums, seine Weise, wie es in Kommunikation als relevant markiert werden will, der Gegensignatur, der Gegenzeichnung bedarf, um jemals Signatur gewesen zu sein. Was wäre ein „Ich mag dich!“ ohne irgendeine Reaktion? Wie geht es dem Kind, das an der Schürze seines Vaters zupft und zupft, ohne dass irgendwann einmal gefragt wird: „Was willst du denn?“ Bleibt diese Gegenzeichnung aus, das Zeichen der Annahme, wird das Bewusstsein auf sich und seinen Körper geworfen – als einzigen Garanten der Vorstellung, jemand zu sein, der in Betracht kommt – und ebendies wäre angesichts der Vordringlichkeit von Kommunikation für gelingendes Leben ein hoch defizitärer Zustand. Dann geht es um Menschen (und hier: junge Menschen) in statu degenerationis – in einer Verzweiflungswelt ohne die Bestätigung der Einzeichnung des eigenen in das Andere der Kommunikation. Diese Verzweiflungsnähe ist Gewaltnähe, insofern Gewalt an Stelle der Sprache „sagen“ kann: „Hier bin ich, hier bin ich gewesen, ihr könnt mir nicht mehr versagen, meinem Hier-gewesen-Sein Tribut zu zollen.“

Die Frage ist, ob die moderne Gesellschaft Akzeptanzverweigerungen, das Versagen der Gegenzeichnungen systematisch pflegt, ob sie Empfindlichkeiten in dieser Hinsicht begünstigt. Die Vermutung ist: Ja. Sie hat Akzeptanzmuster entwickelt, die persönlichen Erfolg, die Jugendlichkeit, Anschlussfähigkeit, unheilbare Gesundheit favorisieren und das Sperrige, das Zeitaufwändige idiosynkratisch agierender Menschen ausklammern. Sie ist hoch temporalisiert und hat deswegen keine Zeit für die aufwändige Pflege von Signatur und Gegenzeichnung, von Rede und Gegenrede. Und deshalb schafft sie sich Expertenkulturen des Zuhörens und Gegenzeichnens, die immer zu spät kommen. Und deswegen wirft sie auf ihrer Kehrseite den Gerontozid aus, der in so vielen Pflegeheimen für alte Menschen exerziert wird. Sie kann sich zeitaufwändige Kommunikation offenbar nicht mehr leisten.

Die alte Geschichte vom Menetekel hat ihren verborgenen Sinn darin, dass sie anhand einer Nicht-Normalität (der Schrift an der Wand, der das Morden folgt) eine Normalität, die ihr vorausging, aufdeckt. Es war schon etwas Skandalöses da, das bislang durch eine Art Immunabwehr verborgen blieb. Nicht immer funktioniert diese Abwehr. Dann kommt es zu Zeichen, die als Ausnahme auf einen Alltag zurückverweisen, der skandalöse Züge hat. Das rechtfertigt, bezogen auf diesen einen schrecklichen Fall, nichts, es erklärt ihn nicht. Aber wie immer, wenn man mit der Hand auf jemanden weist, weisen drei Finger derselben Hand auf einen selbst zurück.

Es ist eine gute Tradition, Körperereignisse, die das Schweigen der Organe durchbrechen, als Symptome aufzufassen, die auf grundlegende Störungen hindeuten. Das kann man auch hier tun. Es ist schon ein weiteres Symptom, wenn als Gegenmaßnahme auf den Entzug von Waffen für bestimmte Gruppen gesetzt wird – als ginge es hier nur um tödlich wirkende Gegenstände. Die Waffen, sage ich, stecken in Wahrheit nicht dahinter.

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