■ Wer Frieden und Menschenrechte in Europa sichern will, sollte nicht auf die Nato setzen, sondern auf die Osterweiterung der EU: Auf ein Neues, Europa!
Beim Dezember-Gipfel in Helsinki will die Europäische Union zweimal über ihren Schatten springen. Die Türkei soll endlich eine Beitrittsperspektive erhalten, und die Verhandlungen mit den bisher ausgelassenen osteuropäischen Staaten sollen unverzüglich beginnen. Vor allem dieser Sprung ist überfällig. Er wäre Europas zweite richtige Antwort auf die Tragödie im Balkan. Die erste Antwort hatte schon der Stabilitätspakt gegeben, der im Juni in Köln verabredet worden war. Solche Anläufe sind freilich früher am Widerstand aus Washington gescheitert. Der Serbienkrieg hat hier aber einen Schock ausgelöst. Noch nie haben sich die europäischen Bündnispartner so tief und so öffentlich gedemütigt gefühlt.
Dieser Schock wird von denjenigen ausgenutzt, die Europa zu einer militärischen Parität mit den USA verhelfen wollen. Das wurde in Köln beschlossen und nimmt in der europäischen Krisen-Eingreiftruppe schon konkrete Gestalt an. Wenn sie so modern ausgestattet werden soll, wie es die amerikanische Luftwaffe bereits ist, wird sehr viel Geld fließen müssen. Der Steuerzahler fragt sich freilich, wo die Abermilliarden geblieben sind, die er in die Rüstung Europas gepumpt hat, wenn dort weder Kampfflugzeuge noch Präzisionswaffen, weder Kommunikationseinrichtungen noch Überwachungssysteme vorhanden sind.
Und was ist aus der Nato-Reform geworden, aus den viel gefeierten alliierten Streitkräftekommandos? Weder in der Luft über Serbien noch am Boden des Kosovo war irgendetwas davon zu erblicken. Mit dem in Köln beschlossenen Stabilitätspakt für den Balkan hat die Europäische Union jetzt aber ein größeres Eisen ins Feuer gelegt, mit ihrer Aufnahmebereitschaft für ihre Osteuropäer sogar ein zweites. Der Gipfel hat aus der Katastrophe des Kosovo gelernt, dass auf solche Konflikte politisch und wirtschaftlich reagiert werden müsse, nicht militärisch. Die Nato-Bomben auf Serbien haben kein Verbrechen im Kosovo verhindert, dafür aber – nach offizieller Nato-Zählung – sechstausend zusätzliche Tote erzeugt. Soll diese Strategie etwa Schule machen?
Wäre der Stabilitätspakt zehn Jahre früher aufgelegt worden, hätte er die Katastrophe ziemlich sicher verhindern können. Ethnische Differenzen, das wissen wir, fallen in ihrer Bedeutung zurück, wenn der wirtschaftliche Wohlstand zufrieden stellend ansteigt. Er beseitigt auch die Diktatoren. Der Stabilitätspakt ist Europas richtige, die ihn flankierende EU-Osterweiterung Europas wichtigste Antwort. Allerdings brauchen beide ein Konzept. Die Idee, Demokratie und Marktwirtschaft zu verbreiten, ist nicht neu; sie war schon Basis der Ostpolitik des Westens nach 1990. Aber weil sie nicht zu einem neuen Konzept von Außenpolitik weiterentwickelt wurde, gewannen ab 1994 die Traditionalisten wieder an Boden. Gestützt auf die unverändert groß gebliebene Nato, konnten sie nicht nur das Instrument des Militärs, sondern auch die mit ihm verbundenen erprobten Strategien erneut andienen, obwohl die nachweislich erfolglos waren.
Wenn der Stabilitätspakt und die Osterweiterung nicht in den Rang eines außenpolitischen Konzepts erhoben und mit differenzierten Strategien ausgestattet werden, können sie der Konkurrenz mit dem Militär immer nur unterliegen. Der Stabilitätspakt ist überorganisiert und unterfinanziert; die EU-Osterweiterung laboriert an der noch immer geltenden Gleichzeitigkeit von Vertiefung und Erweiterung. Wer immer diesen sinnlosen Widerspruch in die Welt gesetzt hat, nützt nur denjenigen, die weder das eine noch das andere wollen.
Ohne Konzept verkümmert der Ansatz zu ehrenwerter, aber folgenloser Symbolik. Es ist schön, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit nun über „Friedensfachkräfte“ verfügt, die den Friedensgedanken verbreiten und bei Konflikten helfen sollen. Aber was können die fünfzig oder hundert Fachkräfte mit ihren jetzt 5 und später vielleicht 20 Millionen Mark in dieser Welt ausrichten? Der Serbienkrieg hat mehr als 10 Milliarden US-Dollar gekostet, und die Folgekosten, eingeschlossen die des Wiederaufbaus, belaufen sich auf ein Vielfaches. Für den Aufbau im Kosovo sind bisher gut 3 Milliarden US-Dollar eingesammelt worden. Das reicht für die Provinz, aber es reicht nicht für den Balkan.
Die Europäische Union kann sich nicht auf ganz Osteuropa erweitern, wenn sie ihren Haushaltsrahmen dieser Aufgabe nicht anpasst. Der Hohe Kommissar der OSZE, Max van der Stoel, hat ihr soeben vorgerechnet, dass sie sich mit der Erweiterung auf Osteuropa nicht zufrieden geben darf, sondern auch den Kaukasus und Zentralasien berücksichtigen muss, will sie dem religiösen Extremismus, dem Rauschgiftproblem und der gesellschaftlichen Destabilisierung vorbeugen.
Woher soll das Geld dafür kommen? Was die Europäer aufwenden, um erfolgreich den Konflikten vorzubeugen, können sie an dem Instrument einsparen, das sie für die Bekämpfung dieser Konflikte bereitstellen. Die europäischen Nato-Mitglieder haben 1998 zusammen ca. 200 Milliarden Dollar in ihre Rüstung gesteckt. Würden sie nur die Hälfte dieses Betrags für vorbeugende Verbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft in den Krisenregionen aufwenden, bliebe für die unentbehrliche Verteidigung das Notwendige übrig, ebenso für die Krisenreaktionskräfte in Notfällen. Die frei werdenden Mittel können dazu verwendet werden, die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Notfälle erheblich abzusenken. Ein besseres Geschäft können die Steuerzahler gar nicht machen. Die Vorbeugung ist nicht nur erfolgreicher als jeglicher Waffeneinsatz, sie ist auch billiger und wirtschaftlich ertragreicher. Deswegen sollten die Bürger diesen Strategiewandel von ihren Politikern verlangen. Diese wiederum brauchen die deutliche gesellschaftliche Anforderung, damit sie die Tradition überwinden und der mächtigen Lobby des Militärs Paroli bieten können.
Glücklicherweise hat die EU für dieses Geschäft jetzt einen „Außenminister“, „Mr. Gasp“ Javier Solana, der mit seinem Nato-Background wie kein anderer in der Lage ist, die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU aus der Welt der Begriffe in die der politischen Realität zu überstellen. Das ist ein heikles Geschäft, weil nicht nur Geld umverteilt wird, sondern auch Macht, ein höchst sensibles Gut. Was die EU an Macht gewinnt, geht natürlich der Nato verloren.
„Mr. Gasp“ stellt das von den USA gehütete Führungsprivileg in der Allianz nicht in Frage, wohl aber das sicherheitspolitische Entscheidungsmonopol der Allianz als Ganzes. Wenn die EU mit dem Stabilitätspakt und der Osterweiterung der Union ein ganz anderes Konzept von Außenpolitik entwickelt und befolgt, fordert sie das alte, das die Sicherheitspolitik vornehmlich als Verteidigungspolitik interpretierte, auf der ganzen Breite heraus. Gleichzeitig fordern die Europäer eine politische Gleichberechtigung, die sie zwar stets wollten, aber gegen das amerikanische Übergewicht nie erlangten.
Außerhalb der Verteidigungs- und Militärpolitik in der Allianz aber ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der Weg frei geworden für eine ganz anders konzipierte Außen- und Sicherheitspolitik. Wer Konflikte erfolgreich verhindert, braucht sie nicht mehr zu bekämpfen. Insofern versteht sich diese Vorbeugungspolitik der EU als politisches Pendant der Nato. Sie kooperiert mit ihr, integriert sich ihr aber nicht. So kann sie ihre eigenen europäischen Leistungen für die atlantische Gemeinschaft erbringen. Derart kann sie aber auch ihre Äquivalenz mit den USA erreichen, eine wichtige Voraussetzung für das Überleben der atlantischen Gemeinschaft im 21. Jahrhundert. Das hegemoniale Modell dieser Gemeinschaft hat sich überlebt.
Einen solchen Wandlungsprozess durchzusetzen, erfordert äußerst viel Fingerspitzengefühl. Die Emanzipation der EU könnte in Washington sehr leicht als Machteinbuße aufgefasst werden, obwohl sie es nicht ist. Die auf Vorbeugung gerichtete Außen- und Sicherheitspolitik der EU fordert ja nicht die amerikanische Führung der Verteidigungspolitik heraus, sondern stellt ihr eine europäische Führungspolitik auf dem Gebiet der Konfliktprävention zur Seite. Pragmatisch wie Amerika ist, wird es die Entlastung und den Nutzen erkennen, die ihm daraus erwachsen. Doch muss Europa große Sorgfalt darauf verwenden, dass seine Relance in Washington nicht als défi européenne missverstanden wird.
Ernst-Otto Czempiel
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