: Wenn es regnet, wird geschoben
Die 22prozentige Steigung am Anglirú ist die größte Prüfung der Spanien-Radrundfahrt, bei der sich Jan Ullrich trotz guten Prologs nicht zu den Favoriten zählt ■ Von Joachim Quandt
Pamplona (taz) – Hätte ich doch die Klappe gehalten, wird sich Abraham Olano nach der Tour de France gedacht haben. Der Baske hatte sich vorher selbst als Favorit eingestuft und anschließend mit dem sechsten Platz gründlich blamiert. Vor dem Prolog zur Spanien-Rundfahrt am Samstag war der Mann aus San Sebastián entsprechend zurückhaltend: „Eine Wiederholung des Sieges vom Vorjahr ist unmöglich“, verkündete er allerorten. Jan Ullrich übte ähnliche Zurückhaltung. Er sei höchstens bei 80 Prozent seines Leistungsvermögens.
Doch ausgerechnet die beiden Fahrer, die beteuerten, sie würden sich am 26. September in Madrid sicher nicht zum Siegerfoto aufstellen, hinterließen beim Prolog in Murcia den stärksten Eindruck. Olano brauchte für die sechs Kilometer nur eine Sekunde mehr als der Sieger Igor González de Galdeano. Auch Ullrich schlug sich beachtlich. Mit zehn Sekunden Rückstand auf den ersten Träger des von Gelb in Gold umgetauften Trikots lag er eine Sekunde hinter Laurent Jalabert auf Platz 21 vor den übrigen üblichen Verdächtigen auf den Gesamtsieg: Alex Zülle, Fernando Escartin oder Pawel Tonkow. Aus der Weltspitze fehlen allein Marco Pantani, Lance Armstrong und Ivan Gotti.
Überraschungssieger González de Galdeano war in Murcia bei trockener Strecke losgefahren. Als die Favoriten an den Start gingen, fing es an zu regnen, und die Strecke wurde zur glitschigen Rutschbahn. Prolog-Spezialist Zülle nahm die gefährlichen Kurven in Zeitlupengeschwindigkeit. Gerade der Schweizer gilt als besonderer Pechvogel. Zuletzt wurde er bei der Tour auf der 2. Etappe in einen Massensturz verwickelt und verlor sechs Minuten auf den späteren Sieger Lance Armstrong. Am Samstag waren es nur 14 Sekunden Rückstand und Platz 37 für Zülle, der nach seinem Doping-Geständnis mit anschließender Sperre den dritten Vuelta-Sieg seiner Karriere nach 1996 und 1997 einfahren will.
Ein Beispiel für den neuen Radsport, so die Organisatoren, soll die diesjährige Rundfahrt sein, doch von der bei der letzten Tour angewandten Praxis, den Streckenverlauf leichter zu gestalten, um die Fahrer nicht praktisch zum Dopen zu zwingen, wollte man nichts wissen. Die Etappen sind kürzer, damit schneller und spektakulärer, vor allem aber schwerer. Im Vorfeld erhitzten sich die Gemüter der am Saisonende müden Profis besonders am Anglirú-Pass. Dessen über 22 Prozent steile Rampen müssen auf der 9. Etappe erklommen werden. Die Vuelta brauche einen mythischen Berg, sagt die Rennleitung. Der Giro habe den Mortirolo, die Tour L'Alpe d'Huez. Nur so bekomme ein Rennen Charisma. Das Banesto-Team will seinen Fahrern vorsichtshalber den bei Mountain-Bikes üblichen dritten vorderen Zahnkranz ans Sportgerät schrauben. Doch auch am Anglirú könnte der Regen einen Strich durch die Rechnung machen. Das wenigstens orakelt Olano. An den steilsten Stellen würden die schmalen Reifen einfach wegrutschen. Sollte er Recht haben, steht das spektakuläre Schauspiel ins Haus, die Helden der Landstraße am Berg schieben zu sehen.
„Mit der richtigen Übersetzung kannst du mit dem Fahrrad bis in den Himmel fahren“, behauptet dagegen Álvaro Pino, sportlicher Leiter der Mannschaft Kelme, die ihren Fahrer Santiago Botero aus Kolumbien schon vor dem Start wegen eines zu hohen, angeblich genetisch bedingten Testosteronwertes aus dem Rennen nahm. Der Anglirú-Pass wurde auf Pinos Wunsch ins Programm aufgenommen. Mit Fernando Escartin hat er einen Fahrer im Team, für den die Berge gar nicht steil genug sein können. Fünf Bergankünfte machen Escartin in Spanien zum Favoriten auf den Gesamtsieg. Ob die Vuelta allerdings wirklich so hart ist, wie die spanischen Medien behaupten, bleibt abzuwarten. In Frankreich gab es mehr und in Italien höhere Berge zu bewältigen, und der gefürchtete Anglirú ist mit sechs Kilometern nur halb so lang wie der Mortirolo.
Für Jan Ullrich hat die Königsetappe mit Bergankunft in Arcalis Symbolwert. Hier zog er sich bei seinem Tour-Sieg 1997 erstmals das Gelbe Trikot über. Ein Sieg in den Pyrenäen und bei den Zeitfahren vorne dabei sein, das sei alles, was er sich vorgenommen habe, erklärte der 25-Jährige vor dem Start. Genau das könnte zum Gesamtsieg reichen. Denn wenn der Telekom-Kapitän tatsächlich weder einen Sieg bei der Vuelta noch bei der folgenden WM vor Augen hat, muss er sich fragen lassen, warum er nicht gleich die Füße hochlegt und die verkorkste Saison beendet. Und warum er so fleißig abgespeckt hat, was ihm sonst selbst vor der geliebten Tour so schwer fällt. Tiefstapeln gehört eben zum Geschäft.
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