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■ Wenn die Vergangenheit zweimal klingelt, ist es Zeit, sein Bündel zu schnüren und übers Auswandern nachzudenken. Ein Grusolett„Ich bin's, Marlies“

Man weiß es aus dem Kino ja sehr genau: Wenn einen die Vergangenheit einholt, ist Zähneklappern angesagt. Das heißt, zunächst mal guckt man dumm aus der Wäsche. Ich jedenfalls erkenne meine Vergangenheit erst gar nicht wieder, als sie vor der Tür steht, und das liegt fraglos daran, daß auch so eine Vergangenheit nicht unbeschädigt bleibt vom Lauf der Zeit.

Die Vergangenheit hingegen hat in puncto Wiedererkennung weniger Schwierigkeiten. Kaum ist die Tür geöffnet, fällt sie mir unter Absonderung eines Freudenquiekers um den Hals, so daß ich mich frage, ob es sich bei der Person womöglich um ein entfernt verwandtes Familienmitglied handelt, das als so ziemlich letzter Weltkriegsteilnehmer aus russischer Gefangenschaft heimkehrt. Das aber haut schon altersmäßig nicht hin, und die Wahrheit ist denn auch viel profaner: „Ich bin's, Marlies!“ ruft Marlies, und Marlies – kein Zweifel – gehört in der großen „Das war Ihr Leben!“-Revue in das Kapitel „Jugendlieben“.

Warum kehrt die Vergangenheit zurück? Im Film liegt die Ursache meist in einem unerhörten Verbrechen, das man weiland begangen, aber in der lebensgeschichtlichen Schuld-und-Sühne- Bilanz noch nicht durch ausreichend Buße wettgemacht hat. Freimütig gebe ich zu: Auch ich habe mich nicht gerade gentlemanlike betragen, als ich Marlies auf ihrer eigenen Geburtstagsparty ein lakonisches „Das war's dann wohl“ zuwarf, während ich Arm in Arm mit ihrer besten Freundin davonzog. Doch muß sie deshalb gleich mit zwei großen Koffern anreisen? Muß sie ihren Gatten Hals über Kopf verlassen, bloß weil sie von mir geträumt hat? Muß sie mir auseinanderlegen, daß sich unsere Wege damals nur aufgrund einiger unglückseliger Mißverständnisse trennten? Ich finde: nein.

Sie aber geht sich erst mal frischmachen und versäumt dabei nicht, einen Koffer halb auszupacken. Beim Umziehen singt sie Lieder wie „Ich bin so frei!“ und „Ich will alles, ich will alles und noch viel mehr!“, so daß ich mich des Verdachts nicht erwehren kann, in Jugendjahren an einer äußerst gefährlichen Mischung aus Geschmacksverirrung und postpubertärer Unzurechnungsfähigkeit gelitten zu haben.

Indessen komme ich nicht dazu, mich für diesen schweren Fehltritt ausgiebig zu schmähen und zu verwünschen, denn schon kehrt Marlies zurück. Aus ihrem zweiten Koffer klaubt sie die handelsüblichen Romantik-Utensilien – nämlich Kerzen und Rotwein – sowie ein Fotoalbum, mit dessen Hilfe sie die abenteuerlichsten Lügengeschichten über unsere gemeinsame Zeit erfindet.

Was bleibt mir also übrig? Klare Sache: Zigaretten holen gehen! Vielleicht, überlege ich, als ich mich außer Sichtweite meiner Wohnung befinde, sollte ich mich um die Mitgliedschaft in einem Vertriebenenverband bewerben. Zuvorderst aber gilt es, eine Kleinanzeige aufzugeben: „Genügsamer und stubenreiner Autor ohne Rasierzeug sucht Zimmer in“ – sagen wir mal – „Anchorage/ Alaska.“ Joachim Schulz

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