: Wenn die Politmäuse tanzen
Ein nächtlicher Besuch auf der „Alleinzuhaus-Party“ im verwaisten Kanzleramt
BERLIN taz ■ Der blonde Bundesgrenzschutzbeamte am Eingang mustert mich äußerst misstrauisch, als ahne er, dass heute Nacht im Kanzleramt etwas geschehe, was nicht unbedingt nach draußen dringen sollte. Aber die persönliche Einladung des Kanzleramtschefs wirkt, und so winkt mich der BGS-Hüne betont lässig durch das Tor.
Ruhig liegt der gigantische weiße Klotz im Berliner Tiergarten. Es ist Ferienzeit. Nur ein Notdienst hält die Stellung, heißt es. Denn der Kanzler ist in Hannover, schneidet seine Gartenhecke und lässt sich dabei fotografieren. Stille beherrscht auch das riesige Foyer, als ob der scheußliche grüne Metallic-Lack, der das Kanzleramt durchzieht, alle Geräusche absorbieren würden. „Hallo, hallo!“ Erschrocken drehe ich mich in Richtung der großen Freitreppe. Es ist Hans Martin Bury, der, eine Spur zu leicht bekleidet, auf mich zueilt. Offensichtlich hat der Staatsminister einen Anruf vom Wachtposten bekommen und holt seinen Besucher persönlich ab.
„Schön, dass Sie …, dass Sie kommen konnten“, stolpert Burys Zunge durch die Begrüßung. Es geht wohl schon hoch her. In die sechste Etage müsse man, gnickert Bury und drückt auch schon den Fahrstuhlknopf: „Im Kabinettsaal ist die Sau los.“ Als sich die Aufzugtüren oben öffnen, schallt laute Discomusik aus dem Raum, in dem sonst die Ministerrunde tagt. Vorbei an der Gemäldegalerie mit den Porträts der mürrisch dreinschauenden Exkanzler geht es zum Kabinettsaal. Ein Blick genügt, und die Lage ist klar: Der lang gezogene Edelholztisch ist übersät mit Gläsern und Flaschen, und in der Mitte tanzt – Rezzo Schlauch. Mit nacktem Oberkörper wirbelt der grüne Fraktionschef ein blaues Hemd wie ein Lasso über den vom Wein geröteten Kopf. Es ist jedoch nicht seines. Denn ihm gegenüber schwenkt eine ebenfalls barbusige Frau ihre Hüften – Kerstin Müller. „In the Navy“, grölen die beiden Grünen-Führer einen alten YMCA-Schlager.
Die schwarzen Ministersessel sind an die Wand geschoben, und auf ihnen tummeln sich einige betrunkene „Tagesschau“-Nasen. Nur Schröders Stuhl mit der erhöhten Lehne steht noch am Tisch und dient offenbar als Tropfbecken für ein umgestürztes 100-Liter-Bierfass.
„Nimm ersma’ ein’ Schluck“, drängt Bury mir jetzt eine Flasche Wodka auf, um mit schleppenden Schritten im Getümmel zu verschwinden. Ich komme gar nicht dazu, den wunderbaren Panoramablick auf den nächtlichen Tiergarten zu genießen. „Prostata!“, klockert plötzlich Horst Ehmke einen Bierhumpen gegen meine Flasche. Was macht denn der Alt-Kanzleramtschef ausgerechnet hier? „Ich recherchiere für meinen neuen Krimi“, sprudelt es sofort aus dem silbrigen Herrn. „Wann kommt man schon mal ins Kanzleramt? Nur wenn Schröder weg ist“, nimmt er jetzt einen tiefen Zug vom Bier, dem er ein, zwei kräftige Bäuerchen folgen lässt.
„Rattenscharf“ sei die Ferienparty mischt sich jetzt ein SPD-Hinterbänkler aus dem Bundestag ein. Das ganze Jahr über träume er davon, einmal am Kabinettstisch sitzen zu dürfen, dabei müsse er sich dauernd mit langweiligen Postleitzahlen oder Bahnfahrplänen in irgendwelchen „Scheiß-Ausschüssen“ beschäftigen. „Nie, nie komme ich an die Macht“, treten dem Parlamentarier plötzlich die Tränen in die Augen, dann sinkt sein grau bekränzter Kopf auf meine Schulter, die bald völlig eingenässt ist. „Aber dafür machen wir doch Party“, klopft ihm der Alt-Internationale Ehmke mit seiner Pranke auf den Rücken und zieht den neuen Freund endlich weg zur improvisierten Bar, wo die beiden prompt einer jungen Bundestagsmitarbeiterin um den Hals fallen, die allein sowieso nicht mehr stehen könnte. Römms …! Mit einem lauten Knall beerdigt das Trio ein Tablett voller Gläser unter sich.
Einmal im Jahr, hatte Bury zuvor am Telefon erklärt, finde die „Alleinzuhaus-Party“ statt. Wenn Schröder aus dem Haus sei, „tanzen die Politmäuse auf dem Kabinettstisch. Und im Kanzlerbett poppen ist das Größte!“, versicherte er feurig. Hätte man Bury nicht kürzlich einen Gefallen getan und einen seiner schweren Fehler ausgebügelt, der ihn im Wahlkampf massiv belastet hätte, wäre man wohl nicht eingeladen worden. Aber so kostete es Bury nur eine Eintrittskarte zur geheimnisvollsten Party Berlins. Schweigen müsse man allerdings können, beschwor Bury mich am Telefon eindringlich, es dürfe nichts, aber auch gar nichts nach außen dringen.
Trance-Techno wabert aus dem Büro des Bundeskanzlers. An Schröders Schreibtisch hat sich der CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger breit gemacht. Die Bilderrahmen mit den Fotos von Schröders Frau und Vater liegen achtlos in einer Ecke. Vor Pflüger stapeln sich kleine Häufchen mit bunten Pillen. „Will noch jemand ’ne E?“, fragt Pflüger eine Gruppe von FDP-Parlamentariern, die sich unter Anleitung des CSU-Gesundheitsexperten Horst Seehofer auf dem beigen, von Rotweinflecken gesprenkelten Teppichboden herumlümmeln und Flaschendrehen spielen. Derweil hat sich der Geheimdienstchef Ernst Uhrlau seines Anzugs entledigt und bearbeitet in Unterwäsche zwei Bongotrommeln, die zwischen seinen haarigen Schenkeln klemmen.
„Das dient alles der politischen Hyg-, Hyg-, Hygiene“, hickst Bury und runzelt die Augenbrauen: „Vorne Wahlkampf, hinten Party. Wir sitzen doch alle in einem Boot. Aber Schluss mit Fragen!“ Bury zieht mich hinüber in die Kanzlerwohnung. Inzwischen trägt er ein Lippenstift-Herz auf der Stirn und hat nur eins im Sinn: „Geil wie Doris“ sei die Dame, die er in Schröders Schlafzimmer gelotst habe, aber er lasse mir gern den Vortritt: „Ran an’n Speck!“ Es ist Zeit, die letzten Sinne zusammenzuraffen, Bury noch viel Spaß zu wünschen und zu flüchten. Einfach nur weg, raus in die Nacht. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass die Volksvertreter erstaunlich normal sind – genauso, wie es das Volk von ihnen erwartet.
MICHAEL RINGEL
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