Wendepunkte im Leben: Es ist nie zu früh für die Ekstase
Quarterlife-Crisis: Warum bis Mitte 40 warten, um am eigenen Lebensmodell zu zweifeln? Eine Neuorientierung ist in jeder Lebensphase möglich.
Heute begleitet der Itzehoer den örtlichen Basketballverein Eagles und den Bürgermeister der Kreisstadt mit Podcasts. Hauptberuflich wollte er eigentlich etwas anderes machen, studierte Wirtschaftsrecht, schrieb seine Bachelor-Arbeit – und schmiss nach dem Ende des Studiums alles hin, um sein Hobby zum Beruf zu machen.
Eine neue Richtung einschlagen, statt auf dem einmal gewählten Weg durchzustarten: Kann ja mal passieren. Wenn heute Mittzwanzigjährige ihr Leben auf den Kopf stellen, ist aber oft von einer „Quarterlife Crisis“ die Rede.
Der Begriff entstand Ende der 1990er in den USA in Analogie zur Midlife-Crisis. Bekannt machten ihn die New Yorker Journalistin und Autorin Alexandra Robbins und die IT-Fachfrau Abby Wilner in ihrem 2001 erschienenen Buch „Quarterlife Crisis“. Darin beschrieben sie, ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen als Mittzwanzigerinnen, die Ängste und Unsicherheiten in der Endphase des ersten Lebensviertels, beim Wechsel aus der geschützten Uni-Sphäre in die Berufswelt.
Jung, erfolgreich, orientierungslos
Inzwischen gibt es ein breites Angebot für junge Menschen in einer solchen Lebenskrise. Bücher wie „Quarterlife Crisis. Jung, erfolgreich, orientierungslos“ oder „Early Life Crisis: Der Impulsgeber für Abiturienten, Studenten und junge Arbeitnehmer“ greifen den Trend auf. Coaches wenden sich an ratlose Mittzwanzigjährige, bieten Seminare oder Youtube-Videos mit hilfreichen Tipps an. Auch für Krankenkassen scheint es ein großes Thema zu sein: Sie werben für Achtsamkeitstraining oder Meditation gegen den Stress der frühen Jahre.
Gisela Degener, Leiterin des Psychologischen Beratungsservices des Oldenburger Studentenwerks und der Carl-von-Ossietzky-Universität, begleitet seit vielen Jahren Studierende in dieser Lebensphase und kennt das Phänomen gut. Wer die Hochschule verlasse, sagt sie, verlasse ein System, in dem man wisse, „wo ich meine Brötchen kaufe, wer mein Vermieter ist, wer mit mir zusammen wohnt und mit wem ich studiere“.
Dann gehe man „in die Welt“ und werde von außen als erwachsene Person angesehen. Dieser Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen sei ganz natürlich auch von Ängsten begleitet, sagt Degener.
Im Grunde seien dies Übergangsphasen und nichts Dramatisches. „Es ist eine normale Lebensphase, in der die sicheren Säulen der Identität ins Wanken geraten und neu gemauert werden müssen, und das ist einfach eine Entwicklungsaufgabe“, sagt sie. In den vergangenen Jahren, insbesondere in den Jahren seit der Pandemie, habe die Angst junger Menschen aber deutlich zugenommen. „Wir wurden und werden geflutet mit angstauslösenden Nachrichten, die tiefgehende Gefühle der Ohnmacht befördern.“
Schnelle Lösungen gewohnt
Aus der psychologischen Perspektive seien Krisen aber in einem umfassenderen Sinne Entwicklungsschritte, sagt Degener. Besser sei der Begriff der Ekstase im Sinne eines Heraustretens aus einem als sicher empfundenen Zustand, wenn man sich etwa entscheide, ein Kind zu bekommen oder den Wohnort zu wechseln.
Krisen könnten so auch als Spannung und mit Neugier erlebt werden: als Chance für einen Aufbruch und neue Gestaltungsmöglichkeiten. „Das ist manchmal anstrengend und wird mit unangenehmeren Gefühlen begleitet, ist aber alles andere als eine Katastrophe“, sagt Degener. Diese Generation sei schnelle Lösungen und kurze Prozesse gewohnt. Das lasse sich nicht immer auf psychische Entwicklungsphasen übertragen und werde somit als Problem interpretiert.
Der psychologische Beratungsservice arbeitet daran, die durch Isolation und Krisennachrichten angewöhnte Angst wieder zu verlernen. Dabei seien Gruppenerfahrungen wichtig. „Wir bieten alles an, was Menschen wieder miteinander in Kontakt bringt. Wir sind keine Einzelwesen, das müssen die jungen Menschen wieder lernen“, sagt Degener.
Probleme und Ängste beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste habe es immer gegeben, sagt der Psychologe Toni Faltermaier. Er hat sich lange an den Universitäten Augsburg und Flensburg mit Gesundheitspsychologie beschäftigt und kennt die Debatte um die Midlife-Crisis in den 1980ern.
Weniger Geld, mehr Spaß
Heute sei der Begriff nicht mehr en vogue, für die These einer generellen Krise in der Mitte des Lebens fehle die wissenschaftliche Evidenz, sagt Faltermaier. Dennoch erlebten Menschen zwischen 40 und 50 oft einen Umbruch und dass sich in der Zeitstruktur ihres Lebens etwas verändert: Der Körper ist nicht mehr so leistungsfähig, beruflich stelle sich vielen die Frage, welche Ziele sie bis zur Rente noch erreichen können. Die Kinder verlassen das Haus, Krankheiten entwickeln sich.
Faltermaier bestätigt, dass das Bewusstwerden des eigenen Alterns ähnlich wie der Übergang ins Berufsleben oft negativ konnotiert und mit der Angst verbunden ist, dass ab 50 alles nur noch bergab geht. Tatsächlich biete der Übergang von einer Lebensphase in eine andere auch die Chance, „den Lebensraum noch mal realistischer zu gestalten“. Sich weiterzuentwickeln und etwas Neues zu beginnen, sei in jeder Lebensphase möglich.
„Keine Ahnung, ob das nun eine Krise war“, sagt der Itzehoer Nico Totzek über seinen Entschluss, trotz seines Studiums in Wirtschaftsrecht ins Marketing zu gehen. Ihm ging es darum, sich seinen Traum zu erfüllen: „Ich wollte immer Content Creator werden und Podcasts machen.“ So fing er statt in einer Anwaltskanzlei in der Marketing-Abteilung der Itzehoer Versicherung an und macht inzwischen Podcasts, in denen er seinem Chef Thiess Johannsson erzählt, wie seine Generation tickt und warum Millennials im Job Wertschätzung so wichtig ist.
Auch er selbst hat bewusst weniger Geld und mehr Spaß gewählt: „Es war die richtige Entscheidung“, sagt er nach einem dreiviertel Jahr im neuen Job. „Ich sehe meine Freunde, die nicht ihrer Leidenschaft gefolgt sind, heute schon vom Beruf genug haben und nur vom nächsten Urlaub reden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen