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■ Die Fans des FC St. Pauli sind zu bedauern: Sie müssen immer leiden

Fußballfans haben ein Gedächtnis wie eine Eintagsfliege: Keines. Im entscheidenden Glücksmoment vergessen sie all die Demütigungen, die sie vorher erfahren mussten. Als der FC St. Pauli am Freitagabend 89 Minuten lang wie ein Regionalligist spielte, durfte man keinen Farthing mehr auf die Braun-Weißen setzen. Der Abstieg ins zweigeteilte Debakel im semiprofessionellen Unterbau der Profiligen schien nicht mehr abwendbar. Bis Marcus Marin in der Nachspielzeit traf.

Sein 1:1 in der letzten Spielminute am letzten Spieltag gegen Rot Weiß Oberhausen rettete der Mannschaft vom Millerntor den Klassenerhalt, dem Verein etliche Millionen Mark über Fernsehgeld und Sponsorenverträge und den rund zwanzig festen Mitarbeitern des Klubs den Arbeitsplatz. Oder, wie es ein Angestellter aus dem Kartencenter formulierte: „Das bedeutet für mich eine Siegprämie von 30.000 Mark.“

Dabei konnte sich der FC St. Pauli beim zu diesem Zeitpunkt längst abgestiegnen Karlsruher SC bedanken, dass sie gegen die Stuttgarter Kickers noch so lange kämpften, bis sie die ungeliebten schwäbischen Nachbarn mit in die Dritte Liga nahmen. Eine Kiste Jack Daniel's vom scheidenden Hauptsponsor ist das mindeste, was die Badener jetzt verlangen können. Und Marcus Marin darf man ruhig ein Denkmal aufstellen. Nur sollte man nicht darüber nachdenken, dem Stürmer vielleicht doch noch einen Rentenvertrag zu geben.

Die kommende Saison wird für die Anhänger des Stadtteilvereins bestimmt ähnlich schlimm werden wie die vergangene. Marin selbst hat einen dicken Schlussstrich unter die verkorksten vergangenen Jahre gezogen. Jetzt muss am Millerntor endlich aufgeräumt werden. Vielleicht wäre ein Relaunch der Mannschaft in der Regionalliga einfacher gewesen. So muss der Umbau des Teams in der Zweiten Liga gelingen. Die jungen Talente aus der Amateurmannschaft müssen behutsam ans Profigeschäft herangeführt und durch billige, aber geschickt ausgewählte Neuverpflichtungen verstärkt werden. Mehr lässt der gekürzte Etat von sieben Millionen Mark ohnehin nicht zu. Die Führungsriege war lange genug ein Hemmschuh und gehört ebenso ausgetauscht. Komplett. Vom Stadionneubau soll hier gar nicht erst die Rede sein. Nur so bleiben den Anhängern solche Momente der Verzweiflung in Zukunft erspart.

Obwohl: Fußballfans haben ein Gedächtnis wie ein Elefant. Den rettenden Ausgleich in der letzten Minute am letzten Spieltag der Saison vergisst niemand, der am Freitag dabei war. Eberhard Spohd

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