piwik no script img

Berliner SzenenWeißensee

Ein Kobold

Der Mann draußen sucht nach der Rückfahrkarte in die Welt

Er muss sich verlaufen haben oder irgendwo in den falschen Bus oder die falsche Straßenbahn gestiegen sein. Er passt nicht hierher, weder Ort noch Uhrzeit stimmen. Friedrichshain, Kreuzberg oder Neukölln würde passen, aber jetzt ist es Sonntagmorgen, Viertel vor zehn, und er steht beim Schwabenbäcker am Mirbachplatz in Weißensee. Auf der Nase trägt er eine Sonnenbrille, obwohl es regnet, und auf dem Kopf eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze. Es riecht nach frisch gebackenem Brot und Kaffee.

Draußen läuten die Kirchenglocken und rufen die Gläubigen zum Gottesdienst. Ihm ist anzusehen, dass er gefeiert und in der Nacht keine Minute geschlafen hat, auch wenn er alles andere als müde wirkt. Er ist zappelig und aufgekratzt und nippt immer wieder an seiner Bierflasche. „Hoch die Hände, Wochenende“, sagt er einmal halblaut, weil ihm das Warten zu lange dauert, und deutet dazu eine kleine Tanzeinlage an. Dann geht die Tür auf und ein zweijähriger Junge in einem grünen Woll-Overall kommt an der Hand seines Vaters herein.

„Quaktasche, Papa, Quak“, sagt er. Der Mann sieht ihn mit großen Augen an. Er kneift sich in den Arm. „Oh Gott“, sagt er. „Ich seh schon Kobolde. Du bist echt, oder?“

„Quak. Quaktasche, Papa“, sagt der Junge wieder, der sich überhaupt nicht für den Mann interessiert.

Der Mann schüttelt den Kopf. „Scheiße, ich hab zu viel LSD genommen.“ Er schert aus der Schlange aus, ohne etwas gekauft zu haben, und tritt kopfschüttelnd zur Tür hinaus. Die Warteschlange sieht ihm lächelnd hinterher.

„Quaktasche“, sagt der Junge wieder. „Wir kommen ja gleich dran“, sagt sein Vater, während der Mann draußen nach einer Rückfahrkarte in eine Welt sucht, die nicht aus Kobolden und Kirchgängern besteht.

Daniel Klaus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen