Weinen in der Öffentlichkeit: Sorry, ich bin kurz im Breakdown-Modus
Klar kann man anderen mit den eigenen Sorgen auf die Nerven gehen. Aber macht der Anspruch, alles allein zu regeln, die Sache nicht noch schlimmer?

V or zwei Wochen fahre ich in Leipzig vom Connewitzer Kreuz aus die Karli hoch und höre eine Person in der Tram laut weinen. Zuerst ziehe ich meine Kopfhörer ab, und dann spüre ich die zwei Wölfe in meiner Brust. Um mich herum versuchen die meisten Menschen so konzentriert wie es nur geht, auf ihr Handy zu schauen, manche werfen kurz einen Blick rüber. Etwa nach fünf Minuten halte ich das nicht mehr aus.
Mich kostet’s echt viel Überwindung, aber kurz bevor ich aussteige, krieg ich’s dann doch gebacken, der Person einen Zettel zuzudrücken: „Ich hoffe, dir geht es bald besser. Wir kennen uns zwar nicht, aber pass auf dich auf:(“ Die Person steigt mit mir zusammen aus. Wir reden.
Plottwist: Ich bin die Person, die in der Tram laut heult. Also nicht genau diese Person, aber ich mache andauernd genau das. Ich bin ein Crybaby: Nach der Bundestagswahl sitze ich zum Beispiel mit losen Bekannten in einer Bar im Leipziger Osten – es kommt zu einer heavy Diskussion über Nichtwählerschaft und am Ende passiert’s: Der Damm bricht. Jona hat einen Heuli.
Ist das jetzt unangenehm? Die Anspannung, die die ganze Zeit unter unserem Gespräch lag, war zwar aufgelöst, aber dafür sind da jetzt die überforderten Gesichter meiner Freund*innen.
Eine andauernde Grenzverletzung
Negative Gefühle in der Öffentlichkeit auszuhalten, uiuiui. Immer, wenn ich sehe, dass jemand heult, drängen sich auch bei mir ambivalente Gefühle auf: Ich will nicht aufdringlich sein, Ignoranz fühlt sich aber auch kacke an. Außerdem glaube ich, dass wir uns oft ein mal mehr zurücknehmen, weil viele von uns von klein auf lernen, dass uns das Leid anderer Menschen nichts angeht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Diese liberale Lüge, dass wir alle für uns selbst verantwortlich und selbst schuld sind und so weiter. Und selbst in meinem engen Freundeskreis merke ich die Zurücknahme auch: Wir sind oft überfordert, wenn es Leuten schlecht geht.
Meine Freund*innen wissen, dass ich der größte Hater beim Satz „Ich habe keine Kapazitäten“ bin – vor allem in dem Zusammenhang damit, wenn es meinen Freund*innen schlecht geht. Ich hatte schon oft genug Situationen, in denen es mir sehr schlecht ging und es mir schwergefallen ist, nach Hilfe zu fragen, weil man sich ohnehin schon als Belastung für andere versteht.
Füreinander da zu sein kann anstrengend sein – sich scheiße zu fühlen ist anstrengender. Wenn aber eine Freundin vor meiner Haustür steht, und ich sage: „Keine Kapas“, dann bin ich nicht nur eine schlechte Freundin, sondern auch Symptom dieser Vereinzelungsgesellschaft.
Tränen für alle
Es gibt da eine dünne Linie zwischen Grenzen setzen und Leute allein zu lassen. Community bildet sich genau daraus. Zu wissen, dass wir einfach voreinander weinen können, kann viel mehr Last abnehmen. In einer Zeit der Einsamkeitsepidemie hilft es umso mehr, Verantwortung füreinander zu tragen. Andere tun das dann genauso für uns.
Was ich begehre ist, dass keine Person mehr denkt, dass sie Dinge mit sich selbst ausmachen müsste. Heulen gehört in die Öffentlichkeit – und in gemeinsame Quality-Time. Wir heulen vor dem Späti, im Plenum, auf dem Balkon in der WG. Im Flixbus. Heulen im Gym (da ganz besonders!). Heulen. Heulen. Heulen.
Ich kann diese Vereinzelung nicht mehr. Ich werde immer und immer wieder in Bars und an der Lidl-Kasse heulen. Lasst uns gemeinsam weinen. Wir alle sind doch schon einsam genug.
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