Weihnachtsmarkt Breitscheidplatz: Offenbleiben, trotz alledem
Zwischen Christbaumkugeln, Nackensteaks und Glühwein: Wieviel Normalität herrscht ein Jahr nach dem Terroranschlag? Ein Marktbesuch.
Schnitt. Am 19. Dezember 2016 gegen 20 Uhr lenkte der islamistische Attentäter Anis Amri auf diesem Weihnachtsmarkt einen Lkw in eine Menschenmenge und tötete 12 Menschen.
Schnitt. An einem Bratwurststand wird der Grill angefacht, an einem anderen für Kaffee und Waffeln reiben sich lachend zwei Verliebte die Hände, stecken die Köpfe zusammen und halten sich ein Handy vors Gesicht.
Direkt daneben, etwa 50 Meter vom Tatort entfernt, verkauft eine hübsche Frau in den Zwanzigern warme Wollschals in eleganten Farben. Sie stellt sich als Lara Niederdrenk vor, als Halbspanierin. Gleich räumt sie entschuldigend ein, dass sie den Anschlag nicht miterlebt hat. Eine Meinung aber hat sie trotzdem: „Die Medien haben den Terroristen zuletzt zu viel Aufmerksamkeit geschenkt.“ Und: „Man müsste diese Leute einfach ignorieren.“ Angst hat sie keine, sagt sie. Aber auch, dass sie keine haben möchte, schon aus Prinzip, um Gewalt und Hass und Vorurteilen keinen Raum zu geben.
Nicht einschüchtern lassen
Ähnlich resistent gegen den Ausnahmezustand gibt sich Mehmet M. vom Stand gegenüber, der ebenfalls im ersten Jahr hier ist – ein höflicher Mann in den Dreißigern, der vor fünf Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam und seitdem auf diversen Berliner Märkten handgearbeitete türkische Häkelspitze verkauft. „Es könnte doch überall passieren“, winkt er ab.
Beinahe scheint es, dass er nicht trotz, sondern gerade wegen des Anschlags auf diesen Markt gekommen ist. „Man kann sich doch nicht dauernd fürchten“, sagt er und zieht die Schultern hoch. „Wir müssen doch zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen.“ Mehmet M. meint: Es muss selbst hier auf dem Markt völlig normal bleiben, neugierig mit Menschen aus aller Welt zu plaudern. Berlin muss eine offene Gesellschaft bleiben.
Der Markt füllt sich, es geht auf die Mittagszeit zu, eine Kindergartengruppe schlendert gemächlich an Ständen vorbei, erste Nackensteaks gehen über den Tresen. Die meisten der Standbetreiber, die den Anschlag an dieser Stelle vor einem Jahr erlebt haben, winken ab, wenn sie auch nur den Notizblock unterm Arm der Journalistin erkennen – manche bedauernd, manche sogar abweisend bis angriffslustig – oder auch mit knappem Verweis auf den Chef, der alle Medienanfragen entgegen nehme.
Viele fühlen sich missverstanden
Sicherheitsvorkehrungen Neben einer verstärkten Polizeipräsenz bei öffentlichen Veranstaltungen, stehen vor allem Maßnahmen zur Sperrung von Zufahrtswegen im Fokus. Genehmigungsverfahren für öffentliche Veranstaltungen wurden hierzu verschärft: Sogenannte Nizza-Sperren, Betonblöcke mit einem Gewicht von über einer Tonne, wurden vielerorts zur Vorschrift. Des Weiteren werden Veranstalter angehalten, mehr private Sicherheitsfirmen für Taschen- und Personenkontrollen zu engagieren.
Streit um Kosten Aufgrund des gestiegenen Sicherheitsaufwands sollen die Standkosten am Breitscheidplatz um 20 Prozent gestiegen sein. Im Verwaltungsgericht Berlin gab es Ende November ein Gerichtsurteil, nach dem der Schutz vor Terroranschlägen nicht Aufgabe des Veranstalters sei. Geklagt hatte der Veranstalter eines Weihnachtsmarkts. Noch ist unklar, ob das Urteil deutschlandweit von Bedeutung ist.
Opferberatung Der Senat schuf einen hauptamtlichen Beauftragten speziell für Opfer von Terror und Amokläufen. Zuvor gab es nur einen Ehrenamtlichen, der generell für die Betreuung von Kriminalitätsopfern zuständig ist. (rp)
Viele von ihnen haben in den letzten 12 Monaten Interviews gegeben, viele fühlten sich missverstanden, wie leicht herauszuhören ist. Sie empfinden das Interesse der Medien als geheuchelt, denn Unterstützung hatten sie viel zu wenig. „Und nun sollen wir auch noch die Poller zahlen“, beschwert sich einer, der gerade Senf auf eine Wurst drückt und seinen Namen verweigert. „Als ob die einen hindern könnten, der wirklich Schaden anrichten will.“
So geht es auch einem Mann in den Fünfzigern hinterm Tresen eines Glühweinstands direkt gegenüber von den neuen Betonsperren am Haupteingang, genau gegenüber von der Stelle, wo der Lkw in den Markt fuhr. Auch er sagt, dass er nichts sagen will, dann kommt er doch ins Reden, aber nicht, dass er am Ende seinen Namen in der Zeitung lesen muss.
Der Mann war hier, genau an dieser Stelle vor einem Jahr, und der Laster fuhr direkt auf ihn zu, bevor er dann doch in die andere Richtung abbog. „Ich dachte, ich bin im Film“, sagt er.“ Er hat alles gesehen. Die kaputten Stände, die kaputten Menschen. Aber: „Ich glaube, ich habe es weggesteckt.“
Auch er will jetzt in die Zukunft sehen, zum Alltag übergehen. Doch anders als bei seinen Kollegen Lara Niederdrenk und Mehmet M. mauert er. Therapie? Er winkt nur ab. Und dann geht es lang und immer lauter um seine „Wut auf die da oben“, wie er sagt, darum, dass „Deutschland kein Einwanderungsland“ sei, dass man „diese Jungs alle scannen müsste“ und „in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken“, damit sie etwas leisten für ihr Geld.
Mehmet M., Händler
Was macht es mit einem Menschen, wenn er einen Lkw über Buden und Körper rollen sieht und sich danach im Stich gelassen fühlt? Ist sein Berliner Gemecker vielleicht eine Rückkehr in ein Leben, das dem davor wenigstens noch ein bisschen ähnelt?
Sehr routiniert beherrscht auch die Charlottenburgerin Ulla Woucher die Berliner Schnoddrigkeit – nur, dass sie den Anschlag nicht erlebt hat.
Was denkt sie über das Mahnmal, das am Dienstag eingeweiht wird? „Zu mickrig“, außerdem an diesem Ort, der sei „wegen der Junkies“ spätestens in ein paar Monaten völlig verdreckt.
Merkel? Eine einzige Niete, die im ersten Moment nach dem Anschlag „ihr Bedauern durch den Pressesprecher“ habe ausrichten lassen.
Ulla Woucher ist eine schlagfertige Person, ihr Mann, den sie als Italiener vorstellt, kommt nicht zu Wort, was ihn auch nicht zu stören scheint, denn so kann er sich besser um das Ketchup auf seinem Revers kümmern. Als gelernte Anwaltsgehilfin habe sie viel im Ausland gelebt, erzählt Ulla Woucher, und immer nach dem Motto „When in Rome, do as the Romans do“. Sie findet, die Einwanderer in diesem Land passen sich nicht genug an. Sie spricht auch von einer diffusen Angst, „abends auf der Straße angetanzt zu werden“. Dann aber grinst sie ziemlich breit, als eine Gruppe arabisch sprechender Jugendlicher bewundernd vor einem Stand mit bunten Papierweihnachtssternen zum Anknipsen stehen bleibt.
Einen Stand weiter direkt gegenüber von den Blumen und den Kerzen, die immer noch auf den Stufen für die Opfer brennen, berichtet eine Schöneberger Familie mit zwei Kindern im Grundschulalter. Die syrische Familie, der sie am Anfang ein wenig bei den Ämtergängen geholfen haben, war schockierter als sie selbst am 19. Dezember 2016. Man habe sich dann abends zum Kochen verabredet.
Es ist 16 Uhr. Je weiter der Nachmittag voran schreitet, je dunkler es schon wieder wird, desto mehr Menschen strömen auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
Es wirkt fast so, als sei hier nie etwas Schlimmes passiert. Hier eine Familie aus Portugal, da ein britischer Geschäftsreisender. Zwei Bankangestellte trinken Feierabendglühwein: Es ist die Rede vom Kopf, der oben bleiben muss. Vom Bockshorn, in das sich keiner jagen lassen darf – man spricht sich Mut zu.
Immer seltener reden die Menschen nun von „denen da oben“ und von den „verkorksten Männern aus Nordafrika“. Immer öfter erzählen sie von der offenen Gesellschaft, „trotz alledem“.
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