■ Weihnachtsmänner können gemietet werden – von Kindergärten, Kaufhäusern, Fußballvereinen – und Familien: Warum ein Profi-Nikolaus im 30-Minuten-Takt schuftet
Hohoho.“ Freundlich brummelnd, mit langer Betonung auf dem O bringt er seinen Spruch. Bestimmt schon hundertmal ist er so zur Tür reingekommen. Mit rotem Mantel, weißem Bart, schwarzen Stiefeln und dickem Sack auf dem Rücken. Dazu lautes Kettenrasseln und Glockengebimmel. Zwei Wochen vor Heiligabend ist er wieder als Künder der hartnäckigsten abendländischen Tradition unterwegs.
Er hat einen Auftrag: als Knecht Ruprecht die Mitglieder einer Fußballmannschaft im Berliner Bezirk Neukölln glücklich machen. Ein Schnaps noch – dann reißt er die Tür zum Klubzimmer auf, wo die Kicker und ihre Freundinnen und Frauen sitzen: „Hohoho. Hier kommt der Weihnachtsmann.“
Die Männer in Schlips und Sakko, die Frauen in Paillettenkleidern blicken gebannt auf. Staunen im Raum, Stille. „Das ist doch gar nicht der Nikolaus“, kichert eine der Damen. Sie hat völlig recht: Er heißt in Wirklichkeit Jörg Schöpfel, ist Geographiestudent und jobbt als Weihnachtsmann. Der Wirt hat ihn beim Weihnachtsmannservice bestellt. Ein besonderes Erlebnis für ein besonderes Ereignis – für die Vereinsbrüder und -schwestern. Für Jörg Schöpfel dagegen ist der Auftritt Routine. Seit fünf Jahren arbeitet der 31jährige lieber zur Weihnachtszeit, als daß er selbst feiert. Jörg ist bekennender Weihnachtsmuffel.
„Das alles ist doch fern jeder Realität“, sagt Jörg nach seinem umjubelten Auftritt. Die Maskerade ist ab, seine Nickelbrille wieder auf. „Besinnlichkeit ist gut. Aber diese übersteigerte Harmonie ist gefährlich.“ Und dann fällt ihm noch Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Frieden“ ein: „Dort flüchtet eine Frau vor der Realität, erlebt nur noch Weihnachten. So geht's doch vielen im wirklichen Leben.“
Weihnachtszeit, Streitzeit. Auch in Jörgs Elternhaus, im hessischen Dillenburg, krachte es regelmäßig: „Mein Vater ist Stier, ich Löwe. Da gab's ständig Reibereien wegen Kleinigkeiten. Die Gans ist falsch geschnitten, der Spielfilm schlecht, und ich sollte abends nicht in die Kneipe.“ Vor fünf Jahren hatte er davon genug. Lieber Heiligabend arbeiten als mit der Familie feiern. „Ich verdiene klasse, der Job ist gut, ich sehe mich am richtigen Platz“ – in Kindergärten, Kaufhäusern, Jugendheimen.
Seine Eltern haben sich inzwischen daran gewöhnt, die Festtage ohne ihre Kinder zu verbringen. Auch Schwester Bettina, 28 Jahre alt, Kunststudentin in Mainz, bleibt dem familiären Weihnachtshappening fern und beschränkt sich auf ein Abendessen mit Freunden. „Anfangs waren meine Eltern darüber schon traurig“, sagt Jörg. „Aber mittlerweile sind sie selbst Weihnachtsmuffel. Seit ein paar Jahren fahren sie über die Feiertage in den Urlaub. In die Sonne.“ Er grinst leicht: „Mein Vater ist Lehrer, da geht das gut. Der hat Zeit und Geld.“
Weg vom vielzitierten Weihnachtsstreß also, hin zu Ruhe und Enthaltsamkeit. Einkaufen, Schenken, Kochen – nichts für Weihnachtsabstinenzler. Und nichts für Jörg: „Bei mir gibt's keinen Baum, keinen Schmuck, keine Geschenke. Das einzige, was ich mir an Weihnachten gönne, ist ein Essen mit meiner Frau Michèle. Vegetarisch wahrscheinlich. Ansonsten ist Weihnachten ein reiner Arbeitstag für mich.“
Und das heißt: Selbst an den Feiertagen ist der Profi-Nikolaus im Einsatz. Im 30-Minuten-Takt beglückt und beschert er seine Kunden. Sein Revier: Reihenhäuser, Etagenwohnungen, sogar Villen. Immer sind es Familien mit Kindern. Bis zu fünfzehn Haushalte allein an Heiligabend. Von zwei Uhr nachmittags bis neun Uhr abends. Dann poltert er wieder zur Tür herein, rasselt mit den Glocken und brummt im Tenor: „Hohoho...“ Er wirkt absolut glaubwürdig bei seiner Show – als glaubte er am meisten an die Gefühle, die er weckt. Gerald Kleffmann
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