Weihnachtsansprache der taz-LeserInnen: Bleiben Sie Fragende!

Am 25. hält Joachim Gauck seine Weihnachtsansprache. Auch unsere LeserInnen haben Grundsätzliches zu sagen. Eine Sammlung.

Auf einem Tisch liegen Zeitungsseiten, die vollgeschrieben sind

Ein paar der teils liebevoll gestalteten handschriftlichen Weihnachtsansprachen Foto: taz.am wochenende

Eine gute Woche vor Weihnachten forderten wir die Leserinnen und Leser der taz.am wochenende auf, auf einer leeren Zeitungsseite eine Weihnachtsansprache zu verfassen. Mehr als 40 Briefe und Mails erreichten uns. Wir haben einige Sätze und Absätze aus den Beiträgen zu einem durchlaufenden Text kombiniert:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Ende Kalender! Ja, eigentlich ist es Unsinn, zum Jahreswechsel irgendetwas Grundsätzliches sagen zu wollen. Es ist ja nur das willkürlich festgesetzte Ende eines von der Natur vorgegebenen Kreislaufs.

Lassen Sie mich dennoch ein paar Worte verlieren, Zeit habe ich Ihnen ja bereits einige geraubt. Zunächst einmal möchte ich mich entschuldigen für alle Reden während meiner Amtszeit, die der christlichen Botschaft nicht entsprachen. Die jetzige Flüchtlingspolitik ist unchristlich. Wir werden sie/uns ändern.

Wir bereuen unsere menschliche Härte und gewähren allen Flüchtlingen, die jetzt hier sind, Asyl. Sie dürfen ihre Familien (Ehepartner und Kinder) sofort nachholen. Nehmen Sie Kontakt zu diesen Menschen auf und unterstützen Sie sie darin, sich bei uns einzuleben und wohl zu fühlen.

In Berlin baut ein gelernter Schweißer den größten Hindu-Tempel Deutschlands – seit mehr als neun Jahren. Große Erwartungen treiben uns an. Sie finden sich in jedem Leben, besonders in der Weihnachtszeit. Die taz.am wochenende vom 24./25./26. Dezember widmet sich ihnen. Mit dabei: eine Kunstschätzerin, ein Pfarrer und ein Alleinunterhalter, die über den professionellen Umgang mit Erwartungen reden. Und: der magische Moment, bevor das Überraschungsei ausgepackt wird. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

All denen, die hingegen mit der aktuellen Flüchtlingspolitik einverstanden sind und sich auf dem richtigen Weg wähnen, rate ich ich für das Jahr 2017 wahlweise zu einer Woche Aufenthalt in Kabul oder Ost-Aleppo. Die Bundesregierung kommt für all Ihre Unkosten auf.

Und nun zur Umwelt: Große Freude – das Klima wird gerettet. Der Kohleausstieg kommt zügig, bei Arbeitsplatzverlust wird selbstverständlich ein auskömmliches Grundeinkommen gezahlt. Alle Autos müssen am 1.1.2017 beim TÜV abgegeben werden. E-Busse und -Bahnen fahren im 5-Minuten-Takt, Lasten-Taxis können mit Fahrer gemietet werden. Alle Straßen den Rädern!

Am 1.1.2017 werden ebenfalls alle Rüstungsexporte eingestellt. Angestellte dieser Firmen werden zu Alten- und Krankenpflegern umgeschult – bzw. bei der Wach- und Schließgesellschaft eingesetzt (freie Wahl).

2017 wird zum Jahr der Langsamkeit ausgerufen. Schließlich ist in unserem Land nunmehr jede/r 4. BürgerIn im Rentenalter. Doch auch Jüngere sind oft durch Handicaps zur Verlangsamung ihrer Lebensaktivitäten gezwungen. Lassen Sie uns daher langsam essen und trinken, genussvoll kauen und schlucken – das fördert die Verdauung und steigert das Wohlbefinden. Langsam gehen, laufen, radeln und fahren erhöht die Sensibilität für die Umwelt und senkt Unfallrisiken. Kein Drängeln mehr in Warteschlangen. Ich bin sicher, es werden wunderbar entspannte Kontakt- und Gesprächssituationen zwischen Ihnen entstehen, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen.

Denken wollen wir jedoch nicht nur an die Alten, sondern auch an die Jungen. Wir wissen seit Jahren, dass unsere Politik – ob schwarz-gelb, rot-grün oder schwarz-rot – die Ungleichheit verstärkt. Das muss ein Ende haben. Kinder müssen systemrelevant werden, nicht nur Antonia und Jonas sondern auch Ayşe und Justin. Nach jedem Armutsbericht heißt es: Wir dürfen keine Kinder zurücklassen, machen es aber munter weiter. Also, lassen wir einen Ruck durch Deutschland gehen und steuern wir um, weg von den Begüterten – hin zu den Schwächeren.

Wir alle müssen erst wieder lernen, weniger nach Unterschieden und stärker nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Wieder Mensch werden. Wenn Frost die Fensterscheiben vereist hat, hilft ein Föhn, sie aufzutauen. Es braucht also nur etwas Wärme, um so viele Probleme zu lösen.

Zum Schluss habe ich noch ein weiteres Anliegen: Haben Sie im vergangenen Jahr den Eindruck gewonnen, in einer einfachen, überschaubaren Welt zu leben? Vermutlich nicht. Deshalb bitte ich Sie inständig: Misstrauen Sie einfachen Lösungen! Haben Sie Mut zur Unsicherheit! Bleiben Sie Fragende! Suchen Sie die anderen Unsicheren! Im Gespräch entstehen Lösungen – vielleicht.

Der Joachim sagt nun Tschau und wünscht Ihnen – Mitbürgern, Erdenbürgern, Kindern, Rentnern, Ossis, Wessis, Flüchtlingen und Reichsbürgern – ein besinnliches Fest. Auf dass Sie nie wieder von mir hören.

P.S. Ja, der Weihnachtsbaum ist eine Lärche. Das habe ich mir zum Abschied gewünscht. Endlos wiederverwendbar – ohne Plaste. Zuhause darf ich das nicht haben. Meine Frau…

P.P.S. Zum Abschied habe ich zusammen mit meinen – vom Mindestlohn ausgenommenen – Praktikanten ein kleines Gedicht für Sie vorbereitet:

Dem Menschen prophetisch ward gewahr

Auferstehung & ewiges Leben immerdar!

Hoffentlich nicht! Sonst begegnen wir all den im Mittelmeer (unter der Beobachtung der Frontex) ertrunkenen Flüchtlingen.

Die zerfetzten Kinder aus Aleppo würden uns fragen, wer die Fass- Bomben auf ihre Häuser geworfen hat.

Und?

Die Fratzen der Globalisierung, visualisiert an den zerquetschten Näherinnen aus Bangladesch, grinsen uns an.

Und nun? In Sack & Asche weiterleben?

Entgegen mancher Dogmen: Leben heißt nicht Entbehrung!

Sozialität ein Manifest.

Und im Glauben „soll jeder nach seiner Fasson selig werden“.

Auch darf der Mensch feste Feste feiern – gut Essen und gut Trinken.

Drum schlagt euch die Hucke voll und besauft euch! In vino veritas. Dann seid ihr wenigstens wieder ehrlich miteinander.

Zusammenstellung: Lea Wagner

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