Weihnachten im Westfield Center: Wo sind die toten Bauarbeiter?
Beim Bau der Luxus-Mall in der Hamburger Hafencity sind sechs Arbeiter gestorben. Die taz macht sich auf die Suche nach der Plakette, die an sie erinnert.
Rot leuchtet der Name des neuen Einkaufszentrums in der Hamburger Hafencity über dem Eingang: Westfield. Überhaupt leuchtet es. Die riesige Mall besteht aus mehreren Häusern, Plätzen und Wegen. Bildschirme weisen den Weg. QR-Code scannen, „Sie suchen?“ Die Gedenkplakette für die gestorbenen Arbeiter, aber sie steht nicht auf der Liste des Wegweisers, nicht unter Entertainment, nicht unter Kultur.
Vor dem Eingang bestellt eine Frau an einer Holzbude zu ihren Pommes Trüffelsoße. Seit November ist hier Weihnachtsmarkt, „nordische Winterwelt mit skandinavischem Flair“. Der Eintritt ist frei. Zwei Securitys mit Fleecemützen lehnen an einem überdimensionierten Geschenk aus Plastik mit Schleife und rauchen. Im Schatten hinter zwei Buden isst ein Mann in Warnweste, mit weißem Helm auf dem Kopf, eine Bratwurst.
Das Westfield ist noch nicht fertig. Es hat im April nach acht Jahren Bauzeit eröffnet, wird aber im Hintergrund weiter ausgebaut.
Drinnen weisen Schilder zum Geschenkeeinpackservice. Ein junger Mann lehnt an einer Balustrade, die mit Lichterketten behangen ist, und telefoniert. „Da ist ein Pulli dabei, den find’ ich richtig geil“, sagt er und kniet sich neben eine Tüte am Boden, „Hose ist von Joop, Schuhe sind von Boss.“ Um ihn herum tragen Menschen Tüten.
Mindestens sechs Arbeiter starben auf der Baustelle
Beim Bau dieses „XXXL-Einkaufszentrums“ sind mindestens sechs Menschen gestorben. Die Leute, die hier Weihnachtsgeschenke kaufen, können natürlich nichts dafür.
Im Januar 2022 starb auf der Baustelle ein Mann aus Rumänien. Am 30. Oktober 2023 stürzte ein Baugerüst ein, wodurch fünf Männer in einen Aufzugschacht fielen, was vier sofort das Leben kostete. Einer starb neun Tage später im Krankenhaus. Die fünf kamen aus Albanien und waren mit falschen Papieren (bulgarischen Pässen) auf der Baustelle illegal beschäftigt. Ihre Familien bekamen keine oder kaum Entschädigung von den Baufirmen oder dem Investor. Sie wurden von denen bis heute nicht mal kontaktiert, auch nicht von deutschen Behörden. Nur die IG Bau sammelte Spenden für sie. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat immer noch nicht ermittelt, wer für das einstürzende Baugerüst verantwortlich war.
Auf der Baustelle des Investors Unibail-Rodamco-Westfield wurden immer wieder schwere Sicherheitsmängel festgestellt. Zu Hochzeiten arbeiteten 2000 Menschen gleichzeitig, viele wussten nicht mal, bei welchem Subunternehmen sie angestellt waren, viele arbeiteten unter falschen Namen. Das heißt ohne Aufenthaltsstatus und ohne Anmeldung bei Sozialversicherung, Krankenversicherung, Berufsgenossenschaft.
Tödliche Unfälle auf Baustellen in Deutschland gibt es immer wieder. 2024 sind 78 Menschen auf Baustellen gestorben – zwei mehr als 2023. Die Westfield-Baustelle galt dennoch als europaweit die mit den meisten zu Tode gekommenen Arbeitern. Die Gewerkschaften sehen mehrere Ursachen: Sparentscheidungen des Investors, Zeitdruck von der Stadt Hamburg, aber auch Folgen der EU-Osterweiterung. Wegen der rechtlichen Besserstellung von EU-Bürgern in Deutschland werden Nicht-EU-Bürger mit falschen Pässen zum Arbeiten für Niedriglöhne hergeholt.
Warum eigentlich „mindestens“? Das Wort taucht immer wieder in Artikeln auf. Die Gewerkschaft für Bauen Agrar und Umwelt (IG Bau) geht, erklärt Ilja Clemens Melzer von der Gewerkschaft, von einer Dunkelziffer an schweren Unfällen aus, die sich auf der Großbaustelle ereignet haben. Wenn die tödlich enden, seien sie zwar schwer zu vertuschen. Man weißt es trotzdem nicht genau.
Pünktlich zum Beginn der Vorweihnachtszeit fahren mehr U-Bahnen in die Hafencity als vorher, wirbt das Westfield auf seiner Website. Praktisch. Man kann aber auch mit dem Kreuzfahrtschiff kommen, das am Kai vor dem Eingang anlegt, so wie Mrs Johnson, 69, aus Kent in England. Sie ist sehr freundlich und findet es hier lovely, reizend. Sie wusste noch nichts von den Toten auf der Baustelle. Es sei zwar beautiful, aber sicher nicht sechs Menschenleben wert, oder? Ihr Begleiter trägt eine Cappy von Calvin Klein und schweigt.
Demhat, 17
Es gibt hier den teuren Markenklamottenladen Breuninger, aber auch Fastfashion bei H&M. Wenn Leute sich über das Westfield beschweren, dann zum Beispiel deswegen. Auf dem Onlineforum Reddit schreiben sie: „Könnte auch die Einkaufsstraße von Wuppertal sein.“
Im zweiten Stock sitzen drei Frauen auf einer Bank und essen gebratene Nudeln aus der Box. Liz, Nina und Helge sind 71, 61 und 64 und kennen sich von der Arbeit. Seit zwei von ihnen in Rente sind, hätten sie endlich Zeit, die Stadt kennenzulernen. Hier sind sie zum ersten Mal. „Wir ham uns das vorgenommen“, sagt Nina, „und sind hellauf begeistert“. Sie loben den Schmuck und die Lichter, schön dezent, die Lage, atemberaubend, und die frische Luft im Center, angenehm. Von der Plakette haben sie noch nicht gehört, sie würden sie sich aber auf jeden Fall anschauen.
Die Plakette liegt gegenüber vom Fondue im Holzfass
Im Erdgeschoss gibt es eine Rezeption in einem Glaskasten. Die Person, die am Schalter arbeitet, weiß nichts von einer Plakette. Ein Security, der das Gespräch mitbekommt, sagt, wenn man hinten aus dem Gebäude rausgehe, ganz raus, hinter der Lego-Giraffe links, bis ans Wasser. Da gebe es Steine und alles mögliche Gedenken. Seine Beschreibung führt zum im Mai eingeweihten Denkmal für einen Tatort des Völkermords an den Sinti und Roma aus Norddeutschland im Nationalsozialismus, den Fruchtschuppen. Nicht zur Plakette für die Arbeiter.
Dabei gibt es die sogar auf Google Maps. Sie liegt direkt gegenüber von einem Restaurant, bei dem man in einem beheizten Holzfass Fondue essen kann. Also man selbst sitzt im Holzfass, nicht das Fondue.
Die Plakette findet man aber nur, wenn man direkt vor ihr steht, und weiß, wonach man sucht. Auf einer von mehreren Holzbänken, neben dem Kreuzfahrtschiffsanleger sind zwei rechteckige Metallschilder angebracht. Davor sitzen Demhat, 17, und Aidan, 16. Sie kämen öfter her. Die Plaketten für die Arbeiter in ihren Rücken seien ihnen noch nicht aufgefallen. Man hätte aber besser eine Statue oder so bauen sollen, was, was man nicht übersehen kann, sagt Demhat. „Oder wenigstens ein Lichtspot.“ Die Schilder hinter ihnen liegen im Dunkeln.
Das ZDF sendet seine Silvestershow 2025 von hier
Wenn man sich über die Bank beugt oder mit dem Handy leuchtet, kann man lesen: „Ort des Gedenkens und der Besinnung. Zum Gedenken an die fünf Bauarbeiter, die am 30. Oktober 2023 bei einem tragischen Baustellenunfall ihr Leben verloren haben. Mögen sie niemals in Vergessenheit geraten und die Erinnerungen an sie lebendig bleiben.“ Auf der zweiten Tafel steht der gleiche Text auf Englisch. Der Arbeiter, der 2022 starb, wird nicht erwähnt.
Die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) Hamburg fordert schon länger ein Denkmal im Haupt-Eingangsbereich, das die Angehörigen mitgestalten. Die Plaketten an der Bank wurde überhaupt nur auf Druck der Jugendorganisation der IG Bau installiert, am Vortag der großen Eröffnung im April. Es war ein sehr kleiner Kreis. Das Management lud dazu keinen einzigen Angehörigen ein.
In diesem Jahr sendet das ZDF seine Silvesterpartyshow nicht aus Berlin, sondern genau von hier, wo die Bank mit den Plaketten steht. Es soll eine schwimmende Bühne geben. Auf eine Anfrage der taz, ob die Bedeutung des Ortes und die tödlichen Unfälle bei der Wahl des Ortes berücksichtigt wurden, schreibt das ZDF: „Grundsätzlich begegnen wir als öffentlich-rechtlicher Sender jedem Veranstaltungsort und seiner Geschichte verantwortungsvoll, die Thematik wird in der Show aber nicht explizit angesprochen.“
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