: Weg von der Fläche
■ Bedeutung von Tarifverträgen im Ausland geringer
Der allergrößte Teil der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland ist tarifvertraglich geregelt – noch. Nach Daten des DGB-nahen Forschungsinstituts WSI von 1990 sind 82 Prozent der westdeutschen Arbeitsplätze durch Tarifverträge gesichert. Im Osten dürfte der Anteil wesentlich niedriger liegen. Der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck stellt in den Gewerkschaftlichen Monatsheften (Ausgabe 2/96) dar, daß Deutschland in der tarifvertraglichen Vereinbarung Spitzenreiter ist im Vergleich mit Japan, Großbritannien und den USA.
Das läßt nichts Gutes ahnen. In den großen Industriegesellschaften, besonders in den USA und Japan, ist der Anteil der Beschäftigten, deren Job tarifvertraglich geregelt ist, schon in den 80er Jahren, so Streeck, „erheblich zurückgegangen“. Während in Westdeutschland die sogenannte „Tarifdeckung“ zwischen 1980 und 1990 relativ stabil blieb, ging sie in Großbritannien von 70 auf 47 Prozent zurück, in Japan von 28 auf 21 Prozent. In den USA waren vor über zehn Jahren noch 26 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse tarifvertraglich abgesichert, heute sind es nur noch 18.
Die hohe Gültigkeit der Flächentarifverträge führte in der alten Bundesrepublik zu relativ geringer Ungleichheit bei den Entlohnungs- und Lebensbedingungen. Nach den von Streeck aufbereiteten Daten des OECD Employment Outlook bekam beispielsweise in den USA ein Beschäftigter aus dem schlechtestverdienenden Zehntel der Arbeitenden nur 40 Prozent der Summe, die ein mittlerer Verdiener nach Hause brachte. In Deutschland dagegen kam dieses unterste Zehntel auf zwei Drittel des Einkommens eines Durchschnittsverdieners.
In den USA sind auch die Einkommensunterschiede zwischen leitenden Angestellten und untererer Mittelschicht besonders kraß. In Großbritannien kassieren die höheren Angestellten ebenfalls mehr als das mittlere Bevölkerungssegment. Hier dagegen konnte sich eine breite, egalitäre Mittelschicht etablieren. Das Gefälle zwischen leitenden Angestellten und Facharbeitern verminderte sich in den 80er Jahren sogar, während sich die Kluft in den anderen Ländern vertiefte. Auch die Unterschiede in der Entlohnung von Beschäftigten in Klein- und Großbetrieben blieben vergleichsweise erträglich.
Die Flächentarifverträge garantierten einen produktiven, sozialen Frieden auch in den Unternehmen. Das funktionierte aber nur in Zeiten hoher Beschäftigung. Die hohe Arbeitslosigkeit führe inzwischen in Deutschland zu „Koalitionen zwischen Arbeitgebern, die ihre Lohnkosten und, womöglich, ihre Qualifizierungsaufwendungen senken wollen, und Arbeitnehmern, denen niedrigere Bezahlung lieber ist als keine“, meint Streeck. Zu diesen Koalitionen gehören auch Betriebsräte, die zunehmend bereit sein müssen, Abstriche beim Flächentarifvertrag zu machen, um Jobs zu retten. Barbara Dribbusch
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