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Watt, wer bist du denn?

Vor der dänischen Küste ekeln sich große Kerls vor sandigen Würmern. Unsere Autorin lässt ihr inneres Friesenmädchen wieder aufleben und lauscht Wattgeschichten. Dabei erfährt sie, welche Superkräfte die Tiere in der Nordsee haben

Die Pazifische Auster hat das Ökosystem im Wattenmeer durcheinandergewirbelt Foto: penofoto/imago

Aus Ribe Lena Reich

Wie ein fliegender Teppich tanzen die schwarzen Punkte am Abendhimmel. Hunderttausende Stare bewegen sich gemeinsam hin und her, driften auseinander, um ellipsenartig wieder übereinanderzuwalzen, ständig ändert der Schwarm seine Form. Sort Sol wird dieses ornamentale Himmelsballett auf Dänisch genannt. Schwarze Sonne. Über 30 Minuten lang organisieren sich die Stare so, um Feinde abzuwehren.

Am nächsten Morgen stehe ich knöcheltief in der Nordsee und denke an das Naturschauspiel, das nachwirkt wie eine Psychosubstanz. Salziger Wind weht mir ins Gesicht. Vor mir liegt das dänische Wattenmeer: eine Matschwüste, die sich in Wellen weit in den Horizont zieht, gebremst von einem schwarzen Strich – Austernbänke, auf denen sich Robben sonnen. Wir machen Familienurlaub in Dänemark, und während die zwei Jugendlichen neben mir und ihrem Vater in den Salzwiesen rumstochern und sich gackernd die Blätter des Löffelkrauts – sie schmecken nach Wasabi – gegenseitig in die Münder schieben, frage ich mich, wie lange dieses Idyll wohl anhalten wird.

Hier in Ribe, am nördlichen Ende des über 500 Kilometer langen Wattenmeergürtels vor der Nordseeküste, scheint mir die Welt noch im Gleichgewicht. In diesem Ökosystem, wo Ebbe und Flut zusammenkommen, haben über 10.000 Tier- und Pflanzenarten ihre ökologische Nische gefunden. Die Miesmuschel, die sich an Vögel haftet, um sich zu reproduzieren. Der grüne Meerringelwurm, der bis zu 200 Paddelfüße besitzt, 40 Zentimeter lang werden kann und bei Vollmond Spermien über den Meeresgrund abregnen lässt.

Ich könnte ewig stehen bleiben, in die Weite blicken und den Watt-Geschichten lauschen, die Clemens erzählt. Dass der 19-Jährige erst seit wenigen Monaten sein Freies Soziales Jahr im Nationalpark Wadehavet macht, merkt man ihm nicht an. Geduldig beantworte er unsere Fragen, klärt unterhaltsam auf. „Bio-Leistungskurs eben“, lächelt er.

Im Augenwinkel sehe ich die beiden Teenies. Ihre schon sehr erwachsenen Körper stecken in Gummihosen mit integrierten Gummistiefeln. Mit lautem Jauchzen springt der 17-Jährige hoch und landet in der überdimensionalen Pfütze. Der jüngere Bruder, von oben bis unten voller Salzwasser, zieht nach. Ein schriller Schrei, dann landet auch er im knietiefen Wasser und beginnt sogleich, in weiten Schritten hindurchzuwaten. Für den Moment sind sie wieder 5 und 3 Jahre alt: keine Sorge um die Schule, den nächsten Snap oder die Jawline. Obwohl bei beiden ausgeprägt, also ultraattraktiv, muss die Kieferpartie täglich trainiert werden.

Aber hier im Wattenmeer greift kein Algorithmus. Hier hat der Mond das Zepter in der Hand. Oder eben Clemens. Souverän zeichnet er Mond und Erde in den nassen Sand und erklärt, wie es zu den Gezeiten kommt. Auch zum Stich mit der Mistgabel setzt er professionell an und zieht den ersten Wattwurm aus dem Boden. „Ihhhhh“, raunt der Chor. „Joa“, gibt Clemens dezent zurück.

Dann erzählt er von den Spaghettitürmchen auf dem Sandboden: „Der Wattwurm nimmt mit dem Rüssel Sand auf, filtert organische Stoffe heraus und scheidet den unverdaulichen Sand durch den After wieder aus – und zwar nach oben. Die Schlammkegel sind nichts anderes als Kackehaufen.“ „Ihhh“, kommentiert die Berliner Jugend erneut, obwohl sie in Sachen Hundehaufen einiges gewöhnt ist. „Und weil der Wattwurm bei Ebbe aufhört, zu atmen, ist er ein echter Star!“

Sechs Stunden Luft anhalten, das imponiert den Jungs. Weil das Hämoglobin des Wattwurms viel mehr Sauerstoff als etwa das menschliche Hämoglobin speichern kann, sind Zuchtbänke geplant. Für Blutspenden, Sauerstoffträger für Lungenkranke, aber auch Organtransplantationen könnte das aus dem Wattwurmblut gewonnene Hämoglobin verwendet werden. „Doping“, schlussfolgert der 17-Jährige und sieht sich bereits im Gelben Trikot durch die Gegend radeln.

Derweil studiert der Jüngere die Austern, die den Meeresboden bedecken. Er, der Tiere liebt, hat schon einmal welche in Südafrika probiert. Runtergewürgt hat er den dicken weißen Schließmuskel, mit Worcestershiresauce. Dann noch einen, weil er dachte, es würde besser. Wurde es aber nicht. Am Oyster Trail werden die Austern dort in aller Früh von Schwarzen Hausangestellten aus dem Indischen Ozean gepflückt und den Touristen zum Frühstück präsentiert.

Wie sehr die Verhältnisse auch hier in Dänemarks Südwesten nicht stimmen, zeigen mit einem Blick auf den Boden die handgroßen Austern, die dicht aneinandergekettet blau-weiß im Wasser schimmern. Seit die Pazifische Auster vor 40 Jahren einige Seemeilen vor Sylt zu Kulturzwecken ausgesetzt wurde, hat sie sich rapide vermehrt und verdrängt Miesmuschel & Co. Ihr harter Panzer ist das Problem. Die natürlichen Fressfeinde fehlen. „Der Austernfischer schafft das nicht“, sagt Clemens.

Über 10 Millionen Zugvögel nutzen das Watt als Rastplatz. In den Dünen brüten Singvögel, Greifvögel und Eulen. Dennoch: Gegen die Delikatesse der Reichen ist niemand gewappnet. „Wer also der Nordsee etwas Gutes tun will, muss Austern sammeln, nicht nur zur Feinschmeckersaison von Dezember bis April!“, erklärt Clemens. In unsere Jackentaschen, in denen bereits Herzmuscheln, Schnecken und Seetang kleben, stecken wir die triefenden Kolosse.

Mittlerweile hat sich das Wetter geändert. Die Laune auch. Es nieselt. Und der lautgestellte Videoanruf der Kinder mit der Freundesgruppe hat für einen Familiencrash gesorgt. Die Eltern sind derart konservativ, dass sie sich nicht vorstellen können, dass jede Impression sofort geteilt werden muss.

„Wer der Nordsee etwas Gutes tun will, muss Austern sammeln“

Clemens, Wattenmeerführer

Ich werfe einen bedauernswerten Blick hinüber zu Clemens und denke mir, dass Familien wirklich die nervigsten Gäste sind. Überhaupt ist es mühselig, über den Meeresboden zu gehen. Auch wenn das Meer in Ribe bei Hochwasser nur 90 Zentimeter steigt: Die massiven Muschelbänke, die wenige hundert Meter entfernt zu sein scheinen und unser Ziel waren, werden wir wohl nicht erreichen, bevor die Flut kommt.

Ich erinnere mich an meine vielen Kuraufenthalte auf einer Nordseeinsel, wo ich gemeinsam mit anderen Asthmatikern stundenlang am Strand entlangging, ohne dass irgendjemand jemals das Gefühl hatte, irgendwann anzukommen. Vielleicht ein Grund, weshalb die „Willst du mit mir gehen?“-Frage oft auf Strandspaziergängen gestellt wurde. Mit Marcus aus Bamberg. Und Christian aus Koblenz. War das Panik oder Langeweile?

Mittlerweile haben sich die Priele gefüllt. In kleinen Strudeln tanzt das Wasser um die Gummistiefel. Das Friesenmädchen in mir checkt die Lage. Wo ist noch mal Norden, wo der Strand? „Pipikack“, trompetet der Vater der Söhne plötzlich neben mir. „Dit hätten wa ooch alleene jekonnt!“ und meint die Wattwanderung. Auf Clemens’ Gesicht macht sich ein verschmitztes Lächeln breit. „Wollen wir zum Abschied noch ein Spiel spielen?“, fragt er. Einstimmiges Nicken. Clemens deutet mit seinem Finger auf die zehn Meter hohe Säule, die am Strand steht und auf der alle Sturmfluten seit 1634 markiert sind. „Ihr geht mit geschlossenen Augen hundert Schritte in diese Richtung.“ Als ich bei Schritt 94 die Augen öffne, liegen die Jungs bereits grölend am Boden. Jeder ist in eine andere Richtung gewandert. Der Vater steht kurz vor der Wasserkante.

Clemens grinst – und erklärt, dass man sich so ähnlich auch bei Nebel bewegen würde. „Im Nu ist die Orientierung weg.“ Zum Abschied ruft er uns hinterher: „Immer schön zusammenbleiben!“ Da sitzen die Jungs schon auf der Bank aufm Deich, umgeben von dicken Schafen, und checken ihre Nachrichten. Der eine brüllt wieder auf: Er wurde für die „Ice Bucket Challenge“ erwählt.

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