Wasserkraft im Tiroler Kaunertal: Auf Talfahrt
Das Platzertal in Tirol soll einer Wasserkraftanlage weichen. Naturschützer, Landwirte und Paddler warnen vor irreversiblen Schäden.
A uf mehr als 2.000 Metern über dem Meeresspiegel steht die Platzeralm wie das Pförtnerhäusl zu einer höheren Welt. Hinter dem Haus weiden Kühe, man hört Almglockengeläut. Ein Wandersteig windet sich bergan. Almrosen leuchten pinkfarben zwischen Steinen. Vielerorts tritt Wasser aus dem Hang, gurgelt bergab. Nach einer Stunde Anstieg flacht die Landschaft ab, gibt den Blick nach vorne frei.
Eine fast asketische Landschaft breitet sich aus. Zwischen alpinen Wiesen und samtenen Moospolstern legt der Platzbach sein blaugrünes Band. Zwischen Torfbuckeln liegen Tümpel. Kein Baum, kein Strauch. Auch keine Hütte, keine Wegbeschilderungen. Es ist ein Stück unverfügte Natur.
Nur heute sind am Taleingang ungewöhnlich viele, vor allem junge Leute unterwegs. Sie hantieren mit Seil und Reepschnüren, entrollen Banner. Als insgesamt 50 Meter Stoff über das Bachbett gespannt sind, kann man darauf in schwarzen Lettern lesen: „Platzertal bleibt!“ Die rund 20 Aktivisten kommen von den Umweltverbänden WWF und Global 2000 sowie dem Naturschutzverein WET, „Wildwasser erhalten Tirol“.
Die Stelle haben sie für die Aktion bewusst gewählt. Von beiden Seiten rücken hier die Berge V-förmig zusammen, bilden einen Flaschenhals. Topografisch ideal in den Augen eines Ingenieurs, um hier eine Talsperre zu ziehen. Genehmigt die Politik die Pläne der Tiwag, der Tiroler Wasserkraft Aktiengesellschaft, wird hier in wenigen Jahren eine rund 120 Meter hohe und 400 Meter breite Betonmauer errichtet.
Eine Mauer, so hoch wie der Stephansdom
120 Meter – das ist in etwa so hoch wie der Stephansdom in Wien oder 20 Meter höher als die Münchner Frauenkirche. Moorflächen im Ausmaß von etwa neun Fußballfeldern würden anschließend geflutet. Der neue Speichersee würde dann über Rohrleitungen mit dem tiefer liegenden Wasserkraftwerk Kaunertal verbunden.
Bettina Urbanek, dunkle Haare, festes Schuhwerk, steht neben einem flechtenbewachsenen Findling und gibt der Presse Interviews. Sie ist für diese Aktion eigens aus Wien angereist und in das Hochtal aufgestiegen. Die Gewässerökologin beim WWF Österreich verfolgt dieses Ausbauprojekt seit mehr als einem Jahrzehnt.
Urbanek findet klare Worte: „Dieses Hochtal samt seinem Moorgebiet auf 2.350 Meter Seehöhe für ein Pumpspeicherkraftwerk zu fluten ist massiv naturzerstörerisch und energiewirtschaftlich so nicht nötig“, sagt sie. „Es ist ein Märchen, dass dieser Bau in Zeiten der Energiewende alternativlos sei – das soll nur die veraltete Planung der Tiwag kaschieren.“
Die Tiroler Wasserkraft AG gehört zu hundert Prozent dem Land, es betreibt den Löwenanteil der über 1.000 Wasserkraftwerke in Tirol. Nun hat der Energieversorger die Pläne zum Ausbau des Kraftwerks Kaunertal zum wiederholten Male zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) eingereicht.
Schweres Gerät in sensible Bergregionen
Wobei der Begriff „Ausbau“ die Dimension der Baumaßnahmen nur unzureichend wiedergibt. De facto wäre es eines der größten Wasserkraftprojekte in Europa, mit unumkehrbaren ökologischen Auswirkungen auf drei Täler. Die Rede ist von drei Baustellen, die eine Fläche von insgesamt 19 Hektar betreffen würden.
Rund 23 Kilometer Stollen von bis zu sechs Meter Durchmesser müssten in den Berg getrieben werden, teilweise unter Naturschutzgebieten hindurch. Schweres Gerät müsste in sensible Bergregionen verbracht werden, Flüsse abgeleitet. Aktuell veranschlagte Kosten: mehr als 2 Milliarden Euro. Ginge es nach der Tiwag, wäre der Baubeginn schon 2028.
Das Unternehmen rechtfertigt das Ausbauvorhaben mit dem Verweis auf die österreichische Energiestrategie. Die Republik will bis 2040 klimaneutral werden. Wie überall bringt die Dekarbonisierung zunächst eine massive Erhöhung des Strombedarfs mit sich. Nach Aussagen des Bundesministeriums für Klimaschutz wird sich der Strombedarf Österreichs bis 2040 um 50 bis 70 Prozent erhöhen, weil die fossilen Energieträger ersetzt werden müssen.
Ausbauziel an erneuerbaren Energien für Österreich sind bis 2030 deshalb zusätzliche 27 Terawattstunden, davon 5 Terawattstunden aus Wasserkraft. Der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal brächte laut Tiwag eine Leistung von zusätzlichen 886 Gigawattstunden im Jahr. Damit stiege das Unternehmen in eine höhere Liga der Erzeugungsgesellschaften auf.
Zu der Protestaktion ist auch Marlon Schwienbacher gekommen. Der jugendlich wirkende Mann ist selbstständiger Biologe mit dem Schwerpunkt Vegetationsökologie. Seinem gebräunten Gesicht sieht man an, dass er viel im Gebirge unterwegs ist. Er hat eine Studie erstellt, die zeigt: Im Platzertal liegt einer der größten, fast unberührten hochalpinen Moor- und Feuchtgebietskomplexe Österreichs – seine Fläche erstreckt sich über mehr als 20 Hektar.
„Das hier ist ein Lebensraummosaik aus Kleinstbiotopen, die über Wasserläufe miteinander vernetzt sind“, so der Wissenschaftler. Tiere und Pflanzen hätten sich hier über lange Zeiträume hinweg angepasst. „Das sind genau die Orte, die wir schützen müssen.“
Moorlandschaften sind aber nicht nur Horte der Biodiversität, sie spielen auch eine bedeutende Rolle für den Klimaschutz. Torf ist Weltmeister in der Kohlenstoffspeicherung. Global betrachtet nehmen Moore nur 3 Prozent der Landfläche ein, aber speichern rund 30 Prozent des Kohlenstoffs.
Dabei sind auch alpine Niedermoore Kohlenstoffsenken. „Ihre Vegetation entzieht der Atmosphäre den Kohlenstoff und trägt ihn unter Sauerstoffausschluss dauerhaft in die Böden ein – und zwar in großen Mengen“, so Schwienbacher. „Aber das tun nur Moore, die sich in einem guten Zustand befinden.“
Immenser Speicherbedarf für den Klimaschutz
Ein Besuch bei der Tiwag in Innsbruck. Am Eduard-Wallnöfer-Platz hat das Unternehmen seinen Hauptsitz. In der Glasfassade des Baus spiegeln sich die Skateboarder, die auf Betonrampen ihre Sprünge machen. Drinnen, im ersten Stock, setzt sich Wolfgang Stroppa an einen ovalen Konferenztisch und breitet einen Plan darauf aus. Der Diplomingenieur hat für das Ausbauprojekt leitende Funktion.
Auf der Übersicht kann man erkennen: Herzstück des bestehenden Kraftwerks ist der Gepatsch-Speicher, ein Stausee aus den 60ern. In ihm wird jetzt das Wasser umliegender Bergbäche eingezogen. Von dort aus wird es abgelassen, treibt im Kraftwerk Prutz Turbinen an und wird in den Inn abgeleitet. Stroppa erklärt die Ausbaupläne: Zwei neue Kraftwerke mit Turbinenhäusern und Triebwasserwegen sollen entstehen, eines neben dem bereits existierenden, es hieße dann Prutz 2, und ein zweites zwischen Gepatsch-Speicher und dem neuen Speicher Platzertal mit Namen Versetz.
Die zusätzliche Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien sei das Ziel, so der Tiwag-Ingenieur. „Zusätzliche Erzeugung heißt aber auch zusätzliches Wasser, das wir dafür benötigen.“ Das soll aus dem hinteren Ötztal kommen, davon wird später im Text noch die Rede sein. Dieses Plus an Wasser würde in den Speicher Gepatsch geleitet. Von dort könnte es über die Turbinen in den Inn abgelassen werden, oder zuerst hinauf in den neuen Speicher Platzertal gepumpt werden, gewissermaßen geparkt.
„Das heißt, das Tal hat später andere Funktionen, als es davor hatte“, sagt Stroppa mit Hinblick auf das Platzertal. Diese Umwidmung rechtfertigt er mit dem Verweis auf die EU, die das Thema Speicherbedarf generell im Rahmen der Klimaziele ganz nach oben gesetzt habe. „Wir werden einen immensen Bedarf haben an Speicherung und an Ausgleichs- und Regelenergie“, sagt er. Diese Aussage ist erst einmal richtig.
Schreckgespenst: Blackout
Die Dekarbonisierung des Stromnetzes verlangt nach mehr Flexibilität zum Ausgleich der Schwankungen der Wind- und Solarstromerzeugung. Speicher sind dabei eine Möglichkeit, Flexibilität zu liefern. Und Pumpspeicherkraftwerke sind dank der Höhendifferenz eine Option, Energie zu speichern und die Einspeisung und Ausspeisung von Strom im Netz auszugleichen.
Dies erklärt allerdings noch nicht, warum so ein Speicher in einem Hotspot alpiner Artenvielfalt gebaut werden muss. Die Energiewende bedeute, Kompromisse zu machen, so Stroppa, man müsse sich die Frage stellen: „Was bin ich bereit an Natur einzusetzen für die Erzeugung von erneuerbarer Energie?“
In ihrem Werben um die Tiroler Bevölkerung nutzt die Tiwag ein weiteres Argument, das Wolfgang Stroppa auch im Gespräch mit der taz anführt. Das Thema Blackout. Das neue Pumpspeicherwerk könne bei einem großflächigen Stromausfall innerhalb des europäischen Verbundes die Netzspannung wieder aufbauen.
Tatsächlich sind Wasserkraftwerke durch ihre mechanische Wirkweise – Wasser fällt durch die Schwerkraft auf Turbinen – „schwarzstartfähig“ und können im Krisenfall anforderungsgenau ins Netz speisen. Zur Wahrheit gehört aber: Das Kraftwerk Kaunertal vermag bereits jetzt einen Schwarzstart, so wie jedes andere Wasserkraftwerk, das an das Verbundnetz angeschlossen ist. Von denen gibt es in Tirol und Österreich bereits eine ganze Menge.
Sprudelnde Ungezähmtheit
Unter der Wellerbrücke bei Oetz tost die Ötztaler Ache. Sie donnert hier durch eine felsige Engstelle. Heute, an einem Sommernachmittag, wo die Sonne heiß auf die Ötztaler Ferner scheint, ist der Wasserpegel besonders hoch. Touristen stehen auf der Brücke, blicken übers Geländer in das Gesprudel, fasziniert von so viel Ungezähmtheit. Sie bestaunen die wenigen Kajakfahrer, die sich auf diesen schwierig zu fahrenden Abschnitt wagen, der in der Welt der Paddler weithin berühmt ist.
Das Ötztal ist eines der letzten Täler Österreichs, in denen sich das Gletscherwasser auch in tieferen Lagen noch seinen natürlichen Weg suchen darf. Auf einer Strecke von 42 Kilometern durchzieht der Wildbach die Landschaft. Das Ötztal selbst ist ein inneralpines Trockental, von Natur aus niederschlagsarm. Es ist der Fluss, der dort ein Leben und Wirtschaften erst möglich macht.
Doch bald könnte Schluss sein mit so viel Tosen und Rauschen. Die Tiwag möchte kurz vor dem Zusammenfluss von Venter und Gurgler Ache deren Wasser mittels zweier 25 Meter hoher Betonsperren in einem 500 Meter langen Becken aufstauen. Mehr als 70 Prozent der dortigen Wassermenge würden abgezweigt und dauerhaft in den Gepatsch-Speicher umgeleitet. Dafür müsste die Tiwag vom Kaunertal aus einen rund 23 Kilometer langen sogenannten Freispiegelstollen durch das Gebirge treiben. Für das Unternehmen ist das interessant: Das Volumen im Gepatsch-Speicher ließe sich damit fast verdoppeln.
Reinhard Scheiber ist Obmann der Ötztaler Agrargemeinschaften und Gründer der Ötztaler Bürgerinitiative gegen den Ausbau des Kraftwerks Kaunertal. Die Initiative will, dass der Fluss im Tal verbleibt. „Für uns hat unser Wasser einen viel größeren Wert als nur die Energie, die in ihm steckt“, sagt er. „An ihm hängt alles dran – Landwirtschaft, Tourismus, Lebensqualität, Trinkwasser!“ Würde der Flusspegel sinken, sei die Absenkung des Grundwasserspiegels zu befürchten. „Das hätte Folgen auf unsere Futterwiesen“, so Scheiber.
Trockene Wiesen
Schon jetzt müsse man diese in trockenen Sommern bewässern. Die Landwirte sähen die Auswirkungen der Klimakrise auch auf den Almen. „Dort fallen Bäche trocken“, sagt Scheiber. „Dann müssen unsere Tiere weite Wege zur nächsten Tränke gehen.“ Die wenigsten Menschen im Tal seien komplett gegen die Nutzung von Wasserkraft. Aber dann sollten es bitte Laufkraftwerke in Gemeindehand sein.
So bliebe das Wasser vor Ort und in Notzeiten verfügbar. „Geben wir es jetzt an die Tiwag, sind die Wasserrechte für 90 Jahre verloren“, sagt Scheiber. Das könne man gegenüber nachkommenden Generationen nicht verantworten. „Kann ich Geld trinken?“, so der Landwirt.
Jürgen Neubarth kommt nicht aus der Riege der Naturschützer. Er sieht die Dinge aus energiewirtschaftlicher Sicht. Der Ingenieur berät österreichische und deutsche Unternehmen, Gemeinden, Behörden sowie NGOs zu Energiethemen. Für den WWF Österreich hat er das Ausbauprojekt Kaunertal analysiert.
Er bezweifelt die Notwendigkeit, das Platzertal in einen Stausee zu verwandeln. „Es fehlt das übergeordnete öffentliche Interesse, wie es durch die europäischen Ausbauziele für den Ausbau der Erneuerbaren gilt“, so Neubarth. Tatsächlich würde der neue Platzer-Speicher und das Kraftwerk darunter gar keinen Strom aus den Erneuerbaren erzeugen, sondern beides würde nur dazu dienen, das Wasser zu speichern. „Und das mit Verlusten, weil das Wasser erst gegen die Schwerkraft nach oben gepumpt werden muss.“
Geld statt Wasser
Den Zeitdruck, mit dem die Tiwag das Projekt durchbringen will, sieht er kritisch. „Es gibt weder in Tirol noch in Österreich eine übergeordnete Speicherstrategie, die benennt, wie viel Speicherkapazitäten wir parallel zum Ausbau von Wind und Sonne überhaupt brauchen.“ Der bisherige Ausbaugrad von Photovoltaik liegt in Tirol derzeit bei 2,3 Prozent, Windkraft bei null Prozent.
Außerdem sei die Energiewende kein Tiroler, sondern vielmehr ein europäisches Projekt. „Ein Speicher, der das europäische Verbundnetz stabilisieren soll, kann also auch woanders stehen als im Platzertal – der kann auch in Thüringen stehen.“
Überdies gäbe es gelungene Beispiele dafür, ältere Pumpspeicherkraftwerke ohne große Naturzerstörung effizienter zu machen, wie etwa das Vorarlberger Kraftwerk Kops 2. Bei dem ist es durch die Optimierung der bestehenden Infrastruktur gelungen, 525 Megawatt Stromleistung zusätzlich zu generieren. Repowering nennt sich das. Ohnehin gelte, so Neubarth, eine alte energiewirtschaftliche Weisheit: „Die günstigste und effizienteste Flexibilitätsmöglichkeit ist der Stromnetzausbau.“
Warum drängt die Tiwag dann so auf diesen Speicher? Auf die Frage lacht Neubarth: „Die wollen halt Geld verdienen, und das kann man mit dem Projekt.“ Was ein Pumpspeicherwerk wirtschaftlich interessant mache, sei, das Wasser mehrmals am Tag zwischen Unter- oder Oberbecken hin- und herzuschicken. „Wenn mittags dank Sonneneinstrahlung viel günstiger PV-Strom an der Strombörse zu haben ist, wird das Wasser nach oben in die Reserve gepumpt.
Anwalt der Natur
Und es wird etwa dann heruntergelassen, wenn die Sonne nicht mehr scheint, in den Haushalten der Bedarf steigt und die Preise hochgehen. Das geht rauf und runter die ganze Zeit, 2.000 Stunden im Jahr. Billig Strom kaufen, teuer verkaufen – das ist die Idee.“
Noch einmal nach Innsbruck, Meraner Straße. Nur wenige Gehminuten vom Hauptsitz der Tiwag entfernt hat die Tiroler Umweltanwaltschaft ihre Büros. Diese vom Staat bezahlte Institution gibt es in Österreich in jedem Bundesland. Der Biologe Johannes Kostenzer leitet die Tiroler Einrichtung. In ihm hat die Natur einen starken Fürsprecher. „Ich bin dazu vereidigt, in Behördenverfahren die Interessen der Natur zu vertreten“, erklärt er.
Wie ein Naturschutzverband hat er Parteistellung, wenn größere Bauten oder Infrastrukturmaßnahmen geplant sind. Kostenzer hat das Recht auf Akteneinsicht, er kann Pläne einsehen und darf bei Verhandlungen Stellungnahmen abgeben. Dazu hat er Weisungsfreiheit. „Mir kann kein Politiker reinreden“, sagt er. Kostenzer spricht ruhig und überlegt. Er hat viel Erfahrung mit Konflikten dieser Art. Rund 1.250 Fälle im Jahr landen bei ihm und seinen Mitarbeitern.
Noch mehr erneuerbare Energie aus Tiroler Flüssen zu ziehen hält er für eine Fehlentwicklung, weil diese Technologie wieder den ökologischen Lebensraum Gewässer belaste. Tatsächlich befinden sich 43 Prozent der Tiroler Fließgewässerstrecken, gemessen an den Kriterien der EU-Wasserrahmenrichtlinie, ökologisch in einem sehr schlechtem Zustand.
Die Gletscherschmelze nicht einberechnet
Kostenzer spreizt fünf Finger. „Wir können die gesunden Flussabschnitte in Tirol an nur einer Hand abzählen“, so der Umweltanwalt. „Aber gerade in Zeiten der Klimakrise brauchen wir intakte Gewässer dringend.“ Das Gleiche gelte für Moorflächen, die bei Starkregen natürliche Wasserrückhalte sind. „Solche Räume aufs Spiel zu setzen geht völlig gegen die Intention des Nature Restoration Law zur Wiederherstellung der Natur, für das gerade erst das EU-Parlament abgestimmt hat.“
Der Umweltanwalt spricht noch einen Fakt an. „Die hydrologische Planung der Tiwag ist viele Jahre alt, sie ist gar nicht angepasst an die Gletscherschmelze in ihrer Gewaltigkeit.“ Tatsächlich schmelzen die Ötztaler Ferner rasant. „In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird ein wesentlicher Anteil von dem Wasser, das die Tiwag neu einziehen will, nicht mehr da sein“, so Kostenzer. „Gerade weil wir nicht wissen, welche Auswirkungen das Schmelzen der Gletscher auf Grundwasser und Quellen haben wird, muss die Politik bei der Entscheidung zu diesem Projekt dem Vorsorgeprinzip eine entscheidende Rolle geben.“
In der Vergangenheit haben Umweltverbände oft gegen die Ingenieursträume der Tiwag protestiert und den Kampf verloren. Doch jetzt formiert sich breiterer Widerstand. Eine tälerübergreifende Allianz ist entstanden, Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen, Wissenschaft gehen in den Schulterschluss mit Vertretern von Landwirtschaft und Tourismus.
Und dann ist da noch WET, gegründet von Kajakfahrerinnen, die sich nicht allein aus Eigeninteresse, sondern auch aus ökologischen Beweggründen für Fließgewässer einsetzen. Denn Querbauten und Ableitungen blockieren nicht nur Paddelstrecken. Sie bringen das System Fluss durcheinander, im Wasser und an seinen Ufern – und so auch seine für den Menschen unverzichtbaren Leistungen. In der Filmdokumentation „Der letzte Tropfen“ haben die WET-Aktivistinnen die Stimmen und Argumente gegen den Ausbau des Kaunertalkraftwerkes zusammengetragen.
Natur als Warenlager?
Anfang des Jahres hat die Tiwag ihre Ausbaupläne zur vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht. Im Juli schrieb die Tiroler Tageszeitung, dass die Behörden dem Unternehmen einen Verbesserungsauftrag in 18 von 36 überprüften Fachbereichen erteilt haben – vor allem, weil in den Unterlagen die Folgen der Klimakrise unzureichend berücksichtigt wurden. Bis März 2024 müssen die Unterlagen überarbeitet werden.
Frühestens 2025 wird es zu einem ersten Behördenentscheid kommen. Dann wird sich zeigen, ob die Tiroler Landesregierung eine Energiepolitik fortführt, die Natur als Warenlager versteht, Hochtäler in riesige Wannen verwandelt und Flüsse auf Knopfdruck an- und ausschaltet. Oder ob sie der Strategie des österreichischen Bundesministeriums für Klimaschutz folgt, die ausdrücklich den Ausbau von Sonnenkraft und Windenergie forcieren will.
Laut einer Studie der Tiroler Landesregierung beträgt das ausbaufähige Photovoltaikpotenzial allein auf Dachflächen 4,6 Terawattstunden. Deutlich mehr, als der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal mit dem Einzug der Ötztaler Ache und der Flutung des Platzertals bringen würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten