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Waschen & Surfen Das Internet wird oft alsdie wichtigste Erfindung überhaupt gepriesen. Unsinn, sagt der Ökonom Chang Ha-joon – die Waschmaschine sei viel revolutionärer. Hat er recht?Technik, die begeistert

von Elisa Britzelmeier

Die Waschmaschine hat die Welt verändert. Sogar mehr als das Internet, sagt der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Chang Ha-joon.

Als das Internet?

Seit es in den Neunzigern in das Leben der Menschen eingezogen ist, redet jemand, wenn es um Innovation gehen soll, in den allermeisten Fällen über das Internet. Die einen listen auf, wie das Netz die Welt verändert hat, die anderen fragen sich, ob sie analog ein anderer Mensch geworden wären, und wieder andere schreiben Bücher wie „Ohne Netz: mein halbes Jahr offline“ oder „Ich bin dann mal offline“. Ein Blick auf die ins Smartphone starrenden Gesichter in den U-Bahnen der deutschen Großstädte, und man ist sich sicher: Das Internet ist die wichtigste Erfindung aller Zeiten.

Alles Unsinn, sagt Chang Ha-joon. „Die Waschmaschine war revolutionärer als das Internet“ heißt Kapitel vier in seinem Buch „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“. Im Kern sagt der Ökonom Folgendes: Dass das Netz alles verändert hat, ist eine Versprechung der falschen Ideologie des freien Marktes. Die fordert eine Wirtschaft ohne Beschränkungen, schließlich gebe es ja durch das Internet auch keine Grenzen mehr – aber das ist Quatsch. Viel entscheidendere Veränderungen dagegen haben technische Geräte gebracht, die mittlerweile ganz selbstverständlich erscheinen – Waschmaschinen zum Beispiel. Natürlich hat das Internet verändert, wie wir unsere Freizeit verbringen. Aber ob es tatsächlich auch Arbeitsabläufe revolutioniert hat, ist schwer nachzuweisen. Als fleißiger Büroarbeiter, der in der täglich anwachsenden Flut von E-Mails beinahe ertrinkt, kratzt man sich da erst mal am Kopf.

Zeit „Die Waschmaschine hat uns mehr Freiraum gegeben, das Internet dagegen frisst so viel Zeit für Unnützes“WASCHMASCHINENVERKÄUFERININ CHARLOTTENBURG

Chang Ha-joons Lob der Waschmaschine ist natürlich überspitzt – ihm geht es vor allem darum, den Glauben, dass immer die neuesten Erfindungen die wichtigsten seien und darum den Markt veränderten, als Mythos des Kapitalismus zu entlarven.

Aber was, wenn man die Waschmaschine ernst nimmt? Kann Chang recht haben?

Jacob Christian Schäffer war sich sicher, dass seine Erfindung die Welt verändern würde. Schäffer, Superintendent der evangelischen Gemeinde Regensburg, hatte in einem Magazin von einer Neuheit aus England gelesen: der Waschmaschine. Eher nebenbei entwickelte der Theologe und Naturwissenschaftler eine eigene, verbesserte Version. Um sie an die Frau zu bringen, schrieb er im Jahr 1767 ein Buch. Der Titel: „Briefe eines Frauenzimmers an ihre Freundin in St., die Waschmaschine betreffend.“

Es war eine Idee, wie sie die Marketingabteilungen von heute suchen: Ein nicht näher genanntes „Frauenzimmer“ berichtet von den eigenen Erfahrungen mit der innovativen Maschine, erst noch skeptisch, dann überzeugt. Es war ein Briefroman, wie sie im 18. Jahrhundert in Mode waren, ein Buch über Schäffers Erfindung – und es war Werbung, ohne als solche aufzufallen. Zu Beginn ist das fiktive Frauenzimmer alles andere als begeistert von der neuen Erfindung – noch dazu von einem Mann:

(Zweyter Brief, Ausschnitt)

Wie! Find ich Sie ungedultig, bis Sie eine umständlichere Nachricht von der Waschmaschine erhalten? Haben Sie schon vergessen, daß wir uns so feyerlich entschlossen haben, nichts von dieser Erfindung des männlichen Geschlechtes zu halten, weil dasselbe das Waschen nicht verstehet?

„Mutter sagte: Jetzt wird die Maschine die Arbeit machen und wir können in die Bibliothek gehen“

Hans Rosling, Medizinprofessor und Datenanalyst, bei seinem TED-Talk über Waschmaschinen

Doch viele reale Menschen ließen sich von Schäffers Waschmaschine überzeugen. Er allein ließ 60 Maschinen bauen – der Erfolg lag nicht zuletzt an seinem Briefroman.

Für den Ökonomen Chang ist die Waschmaschine nicht so sehr wegen ihrer technischen Neuerungen bedeutsam, sondern wegen ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Die Waschmaschine setzte, als sie in unsere Keller, Bäder und Küchen einzog, eine große Menge Zeit frei. Die Zeit, die Hausfrauen zuvor für die Wäsche brauchten, konnten sie nun auf anderes verwenden – Bildung etwa.

„Meine Mutter erklärte mir den Zauber der Waschmaschine so: Jetzt, da wir die Maschine angestellt haben, wird sie die Arbeit machen und wir können in die Bibliothek gehen“, sagte der schwedische Medizinprofessor und Datenanalyst Hans Rosling. Er hielt 2010 einen ganzen TED-Talk, also eine möglichst inspirierende Rede, über Waschmaschinen und darüber, wie ungerecht ihre Nutzung über die Welt verteilt ist. Bei Chang Ha-joon heißt es: Neben der Anti-Baby-Pille waren es auch in Europa und den USA in erster Linie die Waschmaschinen, Kühlschränke und Staubsauger, die Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt möglich machten. Es waren immer noch die Frauen, die die Hausarbeit erledigten. Aber weil sich das bisschen Haushalt fast von allein machte, gingen sie raus, studieren und Geld verdienen.

Die Waschmaschine war revolutionärer als das Internet. So weit also zur Theorie. Aber wie sieht es wirklich aus? Vielleicht sollte man mal nachfragen bei denen, die es wissen müssen. Nicht bei Historikern oder Ökonomen. Sondern bei Waschmaschinen-Verkäufern und im Waschsalon. Und bei den Älteren, die den Wandel vom Waschbrett zur Waschmaschine miterlebten – wer könnte es besser wissen?

Beim Seniorentreff

Dass das hier kein Ort für Tattergreise sein will, verrät schon der Name. Das „Jugendzentrum für Senioren“ in der Münchener Maxvorstadt ist ein Treffpunkt für ältere Menschen, aber an Altersheim denkt hier keiner. Anna Fink ist 67 Jahre alt, sie kommt jeden Tag, vor allem der Gesellschaft wegen und wegen des Essens, das hier ausgegeben wird.

Sie hat noch mitbekommen, wie es früher war, ganz ohne Waschmaschine. „Die Mutter hat mit der Bürste über die Wäsche geschrubbt“, sagt Fink, dunkelgrauer Kurzhaarschnitt, Brille, und schüttet Zucker in ihren Pfefferminztee. Früher war Fink Lehrerin, mit ihrer kleinen Rente heute hat sie es nicht leicht, sagt sie. Sie trägt einen ausgewaschenen Seidenschal zur schwarzen Faserpelzjacke und sitzt am Ende des langen Tischs, Laugenbrötchen und Quarkrolle vor sich, sie nickt viel beim Erzählen. Am Nachbartisch spielen zwei leicht zerzauste Herren Schach.

Als die erste Waschmaschine angeschafft wurde, war Fink ungefähr zehn. „Die Mutter musste sich durchsetzen gegen den Vater, dass so was her muss“, sagt Fink in bedächtigem Münchnerisch. „Das braucht’s nicht, hat der Vater gedacht – später hat er es dann aber durchaus eingesehen.“ 1951 kam die erste vollautomatische Waschmaschine auf den Markt, und erst in den späten achtziger Jahren war sie in so gut wie jedem Haus Standard. In Finks Familie gab es erst mal eine Halbautomatik, als Kind schüttete sie das Wasser von Hand hinein.

Bis in die sechziger Jahre war es durchaus üblich, einen festen Waschtag zu haben. Noch früher, als die Frauen für den Waschzuber erst Brennholz beschafften, dann die Wäsche über Stunden kochten, mehrmals spülten, auswrangen und zum Bleichen in die Sonne hängten, konnte es auch mehrere Tage dauern.

(Erster Brief, Ausschnitt)

Internet

Wer? „Bin ich da schon drin oder was?“, fragte Boris Becker 1999. Höchstwahrscheinlich ja. Denn laut Statistischem Bundesamt haben 88,2 Prozent aller Haushalte in Deutschland Zugang zum Internet.

Wann? In den 1960ern wurden die Grundlagen gelegt, in einem Projekt des US-Verteidigungsministeriums. Danach wurde das Internet vor allem in der Forschung und an Universitäten genutzt. 1989 entstand das World Wide Web, das die private Nutzung ermöglichte. Google gibt es erst seit 1998, Wikipedia seit 2001 und Facebook seit 2004.

Wie? Mit bis zu 200 MBit/s per Glasfaser oder LTE ist alles digital und vernetzt oder auf dem Weg dorthin. Wäre das Internet ein Land, hätte es den sechstgrößten Stromverbrauch der Welt. (aba)

Ich brachte ihm all meine Einwendungen vor, welche ich gegen die Waschmaschine zu machen hatte, ich sagte ihm, daß es unmöglich wäre zu begreifen, daß in so kurzer Zeit die schmuzige Wasche so hell und so rein könnte gemacht werden, als es bey der bisherigen Art zu waschen geschehen ist (…) Ich wußte endlich nichts weiter gegen seine Gründe aufzubringen, als daß ich mein Mitleiden mit den Waschweibern bezeugte, welche dadurch Noth und Mangel leiden würden, indem derselben eine große Anzahl wäre, und diese vielleicht auf keine andere Art ihren Unterhalt künftig gewinnen könnten.

Im Elektrofachhandel

Thomas Meier verkauft seit 1986 Waschmaschinen, und in dieser Zeit sind die Geräte kontinuierlich billiger geworden. Er trägt an diesem Vormittag im Charlottenburger Fachhandel ein Hemd, so weiß, dass man sich als Gegenüber der Fussel auf der eigenen Jacke schämt. Hinter ihm stehen Waschmaschinen Rücken an Rücken, stapeln sich Trockner akkurat übereinander, zwischen 399 und 1939 Euro kostet das Stück. „Früher war es noch ein echter Einschnitt, sich eine Waschmaschine zu kaufen“, sagt er halb im Vorbeigehen, „und wenn sie sich in anderen Ländern die Frauen am Fluss anschauen, dann können wir doch nur froh sein.“ Er wendet sich beflissen einer Kundin zu, die Preisschilder studiert.

Die Verbreitung von Vollautomaten brachte nicht nur Erleichterung mit sich – auch die Ansprüche wuchsen. Früher wurde die Wäsche schlicht nicht so oft gewechselt. Heute wird mit weniger Aufwand gewaschen, dafür aber immer häufiger.

Waschmaschine

Wer? „Meine Waschfrau, meine Constructa“, strahlte die beneidenswerte Hausfrau 1956 in der Reklame. In 93,9 % der deutschen Haushalte fand man 2015 eine Waschmaschine. Sie ist also stärker verbreitet als das Internet. Für alle, die keine eigene haben, gibt es Waschsalons.

Wann? Das erste Patent erhielt 1691 der Engländer John Tyzacke. Nach Dutzenden Innovationen ging 255 Jahre später in den USA die erste vollautomatische Waschmaschine in Serie, Deutschland folgte 1951 mit der Constructa.

Wie? Mit bis zu 2.000 Umdrehungen/Minute, als Front- oder als Toplader. Eine Wäscheladung bei 60 Grad verbraucht mit einer Kilowattstunde übrigens so viel Strom wie etwa 3.000 Suchan­fragen bei Google. Den offiziellen Weltrekord im Waschmaschinenweitwurf (70 kg) hält der Österreicher Franz Müllner mit 4,69 Meter. (aba)

Meiers Kollegin hinter dem Beratungstisch arbeitet auch schon seit 25 Jahren in dem Bereich. „Heute sieht man den Kaffeeautomaten in der Küche als Statussymbol, früher war das mal die Waschmaschine“, sagt sie. Sonst habe sich eigentlich nicht viel verändert. Oft kämen Ehepaare ins Geschäft, die auf eine gute Waschmaschine gespart haben. Dann sei nach wie vor die Frau diejenige, die überlege, wo die Maschine stehen soll und in welche Richtung die Tür aufgehen muss.

Und das Internet? „Die Waschmaschine hat uns mehr Freiraum gegeben“, sagt die Verkäuferin, „das Internet dagegen frisst so viel Zeit für Unnützes.“ Wird die Waschmaschine nicht genug gewürdigt? „Jedenfalls ist kaum noch jemandem präsent, wie wichtig die ist. Dabei möchte doch kein Mensch mehr mit dem Waschbrett waschen.“ Eigentlich schade, findet sie.

Ist die Waschmaschine wirklich von allen vergessen? Im April 2015 befragte TNS Emnid tausend Menschen, welche Erfindung für sie die wichtigste sei. Zur Auswahl standen unter anderem Aspirin, Kaffeekapseln und die Pille. Die Waschmaschine lag vorne. Sie kam auf 44 Prozent, das Internet nur auf 27. Von den befragten Frauen nannten sogar 55 Prozent die Waschmaschine und nur 18 Prozent das Internet. Die Waschmaschine scheint immer noch vor allem Frauenleben zu beeinflussen.

(zweyter Brief, Ausschnitt)

Er befahl auch sogleich zweyen von seinen Leuten, die Waschmaschine in seine Stube hereinzubringen, damit ich sie mit aller Bequemlichkeit betrachten könnte, worauf er mir alle Theile derselben beschreiben und den Nutzen davon erklären wollte. (...) Sie war so einfach und ungekünstelt, dass ein Bauer vom Lande, der von der Waschmaschine nie etwas gehöret, sie vielleicht für eine Art eines Butterfasses würde angesehen haben.

Im Waschsalon (mit WLAN)

Ein Nachmittag in Berlin-Friedrichshain, die „Lavanderia“ ist Waschsalon und Café in einem. Eine Wand aus Glas und weiß gestrichenen Holzbalken trennt die beiden Bereiche, 6,5 Kilo Wäsche kosten 3 Euro 90. Steffen Fiedler, 31, mit Bart, leicht angeschmuddelten Turnschuhen und einem weiten grauen T-Shirt, das ihn noch schlanker wirken lässt, sitzt vor der Reihe aus Waschmaschinen und liest, Scott Jurek, „Eat and Run: Mein ungewöhnlicher Weg als veganer Ultramarathon-Läufer an die Weltspitze“. Fiedler kommt einmal die Woche, er wohnt gegenüber und sträubt sich dagegen, eine eigene Waschmaschine zu kaufen. Für ihn wäre das nur eine Verschwendung von Ressourcen. Und er genießt die Waschausflüge. „Das ist der einzige Moment der Woche, in dem ich eine Stunde Zeit zum Lesen habe“, sagt er.

Fiedler macht beruflich was mit Design und Programmieren, er nutzt das Internet eigentlich dauernd. Am Waschtag nicht. Obwohl es in der „Lavanderia“ WLAN gibt. Die Maschinen rumpeln hinter türkisgrünen Gehäusen vor sich hin, ein wenig größer und robuster als Waschmaschinen im Haushalt. Was ist nun wichtiger, Waschmaschine oder Internet? Fiedler muss erst mal überlegen. „Gesellschaftlich hatte die Waschmaschine wahrscheinlich stärkere Auswirkungen als das Internet, sagt er dann, „der Kühlschrank vielleicht noch mehr.“ Andererseits – ist nicht das Digitale etwas komplett Neues, während die Waschmaschine nur eine Weiterentwicklung vorhandener Techniken ist? Und der Arabische Frühling, das sei doch ein Ereignis, das ohne Internet undenkbar gewesen wäre, oder nicht?

Dann erzählt Fiedler von seiner Oma. Die hatte früher noch keinen Vollautomaten und benutzte eine extra Schleuder für die Wäsche. Und als er ihr zum ersten Mal Skype zeigte, „fiel sie aus allen Wolken“.

Gewiss, das Internet hat Aufstände befördert und vermeintliche Wunder real werden lassen. Aber liegt es nicht daran, dass wir das Internet wahrnehmen, wegen all des Lärms, der darum gemacht wird – während die Revolution der Waschmaschine heimlich, still und leise vor sich ging?

Nebenan sitzen zwei Amerikanerinnen mit Macbooks am Cafétisch, jede eine Plastiktüte mit Wäsche neben sich. Gegenüber ist ein Hostel, viele Backpacker kommen zum Waschen und um das WLAN zu nutzen.

„Die bestellen dann einen Kaffee und hängen drei Stunden rum“, sagt Max Meiszner, der hinter dem Tresen Kaffeetassen sortiert und sonst auch mal die Waschmaschinen sauber macht. Er grinst so breit, dass sein Ärger gespielt klingt. Meiszner ist 24 Jahre alt und Berliner, er wäscht daheim und nicht hier, und das Internet nutzt er nur zum Musikhören und Filmeschauen, sagt er. „Ich könnte ganz gut drauf verzichten.“ Er versteht diesen ständigen Kontakt zu anderen nicht. „Das ist der große Vorteil des Internets und zugleich das Schlimmste daran.“ Und dass es Grüppchen gibt, in denen sich die Leute gegenübersitzen, aber alle schauen nur aufs Smartphone, das nervt ihn gewaltig. Er will nach Neuseeland, für länger. Und wenn er mal weg ist, dann wird er sich nicht so oft melden, sagt er.

(Dritter Brief, Ausschnitt)

Ich gestehe es Ihnen, meine liebe Freundin! daß ich ganz erstaunt und voller Verwunderung war, da ich die Würckung dieser Maschine erblickte. Es ginge mir wie einem traumenden und ich konnte mich lange nicht bereden, meinen eigenen Augen zu trauen.

Zurück in München, im „Jugendzentrum für Senioren“. Neben Anna Fink sitzt ihre Freundin Gertrud Annegret Vigo. Vigo hat hellblaue Augen und trägt einen schwarzen Stoffhut mit Krempe über dem weißen Haar, der ist ihr Markenzeichen, sagt sie. Auch sie kann sich an Waschtage und Waschküchen erinnern und an das Waschbrett, das es auf dem Bauernhof ihrer Großeltern gab. Doch das Internet ist für sie die bedeutendere Erfindung. Wenn sie aufsteht, braucht sie einen Stock, sie spricht energisch und viel, und am liebsten über ihr Leben online. Sie hat mehr als 300 Freunde auf Facebook, darunter viele Araber und Südamerikaner, auch eine Liebelei mit einem Mann aus dem Jemen, den sie noch nie gesehen hat. Früher lebte sie lang im Ausland, war mit einem Peruaner verheiratet, bekam vier Kinder, arbeitete als Sprachlehrerin und bei einer Versicherung im Büro. „Und als die Computer aufkamen, hab ich das einfach probiert.“

Anna Fink kann damit nichts anfangen. Sie hat eine E-Mail-Adresse, aber schaut nur selten rein. Sie weiß, dass online alles überwacht wird. Dass mit ihren Daten Gott weiß was passieren könnte, ist ihr nicht geheuer. „Vielleicht ist das altersbedingt“, sagt Fink. Sie telefoniert lieber. Vigo neben ihr schüttelt den Kopf. „Dass du nicht einsiehst, dass das Internet alles viel bequemer und schneller macht!“, sagt sie. „Ja was, schneller! Wenn man alt ist, darf es doch auch mal langsam gehen, oder?“

Im Schleudergang

Dass durch das Internet alles viel schneller wurde als je zuvor, ist ein Irrglaube, wenn man Chang Ha-joon folgt. Der Ökonom macht eine Rechnung auf: Vergleiche man das Netz mit der Erfindung des Telegrafen, dann gewinne der Telegraf. Denn ein Telegramm zu übertragen, sei 2.500-mal schneller, als einen Brief mit gleich vielen Wörtern zu schicken. Und das Internet? Zehn Sekunden braucht man, bis ein Fax am anderen Ende der Leitung ankommt. Bei der E-Mail sind es eine oder zwei – die Steigerung ist also wesentlich geringer.

Anna Fink findet: Wenn man nicht mehr berufstätig ist, braucht man dieses Internet ganz gewiss nicht.

Gertrud Annegret Vigo findet: Immer alles mitzubekommen ist ein großer Vorteil.

Sie liest vor allem Nachrichten online, auf dem Tablet oder dem Smartphone. Das steckt in einer Hülle, die wie eine kleine Lederhose aussieht. Und die Waschmaschine? „Hab ich, ja, benutze ich auch einmal die Woche, aber Hausarbeit hat mich nie interessiert. “ Ihre Waschmaschine wäscht trotzdem weiter, brav und bescheiden.

(Sechster Brief, Ausschnitt)

Es war mir sehr angenehm aus Ihrem letztern Schreiben zu vernehmen, daß Sie sogleich eine Waschmaschine für mich bestellet haben und deren baldige Lieferung hoffen können.

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