Was wir in der Wirtschaftskrise essen: Rezepte in der Rezession
Die neue Bescheidenheit am Herd: In schlechten Zeiten werden Großmutters sparsame Küchen-Ratschläge wieder interessant. Kartoffeln, Kraut und Rüben schaffen gesellschaftliche Solidarität.
Die Wirtschaftskrise kommt langsam in den Kochtöpfen an. In den USA schneller als in Deutschland. Dort sind die Auswirkungen des Finanzmarktdebakels schon ganz alltäglich spürbar. Seit Beginn der Rezession haben US-amerikanische Arbeitgeber bereits 4,4 Millionen Stellen gestrichen, davon allein 1,3 Millionen seit Beginn des Jahres, wie das US-Arbeitsministerium in Washington bekannt gab. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 8,1 Prozent. Höher war sie seit 25 Jahren nicht mehr. Alle Branchen sind von den Massenentlassungen betroffen. In den USA geht deshalb der Begriff von der "Great Recession" um. Man fühlt sich zurück versetzt in die Große Depression der 1930er Jahre - ohne es direkt sagen zu müssen.
In dieser unmittelbaren Not besinnen sich die US-Amerikaner wieder auf das Althergebrachte. Sparsame Kochrezepte aus Großmutters Zeiten sollen helfen. Die Vorreiterin dieses neuen Trends zurück zum Alten, ist die 93-Jährige Carla Cannucciari. Ihr Enkel filmte die italienisch-stämmige US-Amerikanerin beim Kochen einfacher Gerichte, mit denen die Familie bereits die Großen Depression überstand, und stellte sie ins Netz. "Depression Cooking with: Clara" heißen die Folgen und haben bereits weltweit Fans gefunden. Während Clara kocht, erzählt sie von alten Zeiten: Von den Nachbarn, die in der Garage heimlich Whiskey brannten und davon, dass sie die Highschool abbrechen musste, weil ihre Eltern nicht genug Geld hatten. Acht Folgen hat Carlas Enkel bis jetzt ins Netz gestellt. Fast jede beginnt damit, dass die alte Dame eine Kartoffel schält, denn Kartoffeln machen satt. Clara kocht "Pasta mit Erbsen", Bratkartoffeln mit Würstchen, Suppe mit Ei und gibt Energiespartipps: "Wir drehen den Hahn zu und lassen es mit der eigenen Hitze weiter kochen - das spart Gas." Auch auf allerhöchster Ebene wird die neue Bescheidenheit mittlerweile propagiert. Michelle Obama legte jüngst hinter dem Weißen Haus gemeinsam mit Schulkindern einen Gemüsegarten an und machte damit deutlich: In Zeiten der Krise greift selbst die Familie des Präsidenten auf simple Zutaten aus eigenem Anbau zurück.
Auch in Deutschland sind die Zukunftsprognosen schlecht. Die Bundesregierung erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt um 4,5 Prozent zurück geht. Ein solcher Einbruch wird sich früher oder später auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Spätestens dann, wenn die auf 18 Monate begrenzte Kurzarbeit als Abfederungsmechanismus wegfällt. Man befürchtet, dass noch in diesem Jahr über vier Millionen Menschen arbeitslos sein werden. 2008 waren esdurchschnittlich 3,3 Millionen. Die bedrohlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise rücken auch bei uns immer näher. Rezessions-Rezepte kommen deshalb auch hier in Mode. Beim Ratgeber- und Kochbuchverlag Gräfe und Unzer hat man früh auf den Trend reagiert. "Einfach gut, super günstig. Über 100 saisonale, schnelle Gerichte für 1 bis 2 Euro pro Person" heißt ein Kochbuch, das erst vor kurzem erschien. Die darin beschriebenen Gerichte sind nach ihrem Kostenfaktor gelabelt. Unter der Rubrik "Was Oma schon wusste" steht, wie man gekochtes Fleisch vom Vortag zu Fleischsalat verwertet, oder dass sich Steckrüben, Kürbis, Sellerie oder Kartoffeln prima lagern lassen und es sich deshalb lohne diese Dauergemüse in großen Mengen günstig einzukaufen.
Für viele ist die Frage, wie man tagtäglich für wenig Geld nahrhaftes Essen auf den Tisch bringt, jetzt schon Realität. Aber sollten die Auswirkungen der Krise die deutsche Wirtschaft wirklich so hart treffen, wie befürchtet, werden sich noch viel mehr Menschen in dieser Notlage wiederfinden. Gleichzeitig weist der neue Trend zur kulinarischen Bescheidenheit darauf hin, dass Protzen derzeit nicht mehr gut ankommt. Schließlich zeigt sich der Gehaltsunterschied nicht nur im Kleiderschrank und in der Garage. Gerade auch auf dem Teller wird augenscheinlich, wer hat und wer nicht. Statt sich also mit den im Selbsterfahrungs-Workshop erworbenen Sushi-Roll-Künsten zu brüsten und beim Flying Buffet über den Cholesteringehalt von Ente a l'Orange zu philosophieren, befasst man sich wieder mit wahr- und nahrhafteren Zutaten.
Wenn also künftig auch die ehemals gut verdienenden wieder Kartoffeln, Kraut und Rüben kochen, weil sie sparen müssen, wird gesellschaftliche Solidarität in schlechten Zeiten auf ganz existenzielle Weise sinnlich erfahrbar.
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