: Was tun mit den Mengen, mon Général?
Frankreichs Weg zurück in die Nato/ Strategen und die neue Unübersichtlichkeit/ Abgeordnete verlangen Kehrtwende in Militärdoktrin/ Umrüsten statt Abrüsten/ „Hades“ im Orkus/ Fran¿ois Mitterrand auf Staatsbesuch in der Bundesrepublik ■ Aus Paris A. Smoltczyk
Gorbatschows Strategieberater Marschall Achromajew machte noch Selbstmord, nachdem seine Welt zerbrochen war. Westliche Generäle sind da anders. Sie verfallen in Hyperaktivität.
So folgt in Frankreich seit dem Mauerfall Kolloquium auf Kolloquium, Papier auf Papier, These auf These: Was soll werden aus der „Force de frappe“, wenn sich im Zielgebiet, wenn sich bis weit hinter den Ural nur noch Freunde bewegen? Die Frage ist keine rein akademische. Denn kein anderes Land widmet einen so großen Posten seines Militärbudgets der Atomrüstung. Dreißig Prozent sind es. Die Kollegen vom Pentagon kommen mit etwa der Hälfte aus.
Im Golfkrieg war die Last des Mythos Force de frappe unverhofft deutlich geworden, als sämtliche nachtflugfähigen Flugzeuge der Luftwaffe in ihren heimatlichen Hangars bleiben mußten: sie hatten auf den atomaren Fall der Fälle zu warten.
Bereits im April hatte der Senats- Bericht über die Lehren des Golfkrieges das „Veraltern der Konzepte und Mittel der atomaren Abschreckung beklagt.
Seit dem mißglückten Putsch im Kreml ist die „Force“ endgültig zur „Farce de frappe“ geworden. Und was in der Sozialistischen Partei nur hinter vorgehaltener Hand gesagt werden kann, das durften drei rechtsliberale Abgeordnete der Opposition jetzt erstmals öffentlich fordern: die radikale Wende in der französischen Nukleardoktrin: „Wir meinen“, so die drei Vorreiter, „daß die Ausgaben für nukleare Abschreckung in Zukunft ohne weiteres verringert werden können. (...) Wir denken, daß die nukleare Abschreckung teilweise Schritt für Schritt durch eine Abschreckung der Präzision ersetzt werden kann.“ Der General (de Gaulle) hätte es im übrigen genauso gemacht, fügten sie hinzu.
De facto hat sich die Politik bereits geändert. Fran¿ois Mitterrand ist seit Juli entschlossen, auf einen der „drei Pfeiler“ der französischen Abschreckung zu verzichten: auf die raketenbestückten Atom-U-Boote, auf die Raketensilos des Albion-Plateaus oder auf die luftgestützten Atomwaffen. Die Modernisierung der Albion- Silos wurde bereits ad acta gelegt. Verteidigungsminister Pierre Joxe kündigte außerdem an, daß die Manövertruppen des Bereichs „Zentraleuropa“ in Zukunft für jährlich zwei Monate auf Urlaub und Fortbildung geschickt würden. Lediglich die schnelle Einsatztruppe (FAR) sei davon ausgenommen.
Mitterrands Mengenlehre
Rechtzeitig vor seinem Besuch in der Bundesrepublik versprach Fran¿ois Mitterrand, daß die dort recht unpopuläre Kurzstreckenrakete „Hades“ nicht stationiert, sondern lediglich in stark verringertem Umfang (30 statt der ursprünglich geplanten 120 Raketen) eingebunkert werde. Weshalb dieses? „Es ist immer gut, etwas zum Verhandeln zu haben“, erläuterte der Präsident seine strategischen Visionen. Im Auswärtigen Amt wird die „Hades“ nur mehr als psychologisches Problem gesehen: „Möglichst wenig darüber sprechen, der Anachronismus wird sich schon von selbst erledigen“, lautet die Parole.
Im Außenministerium weiß man, daß die Ängste vor einer großdeutschen Einflußzone „von der Ostsee bis an die Adria, vom Baltikum bis nach Kroatien“ (Régis Debray) in Paris durchaus weit verbreitet sind, auch und gerade weil sich die französische Diplomatie im Fall Sloweniens und der baltischen Republiken der bundesdeutschen Position hat anschließen müssen.
Nachdem Fran¿ois Mitterrand lange auf die alten nationalstaatlichen Ordnungen im Osten Europas gesetzt hatte, spricht er jetzt von einer „Mengenlehre“, mit der Europas Geopolitik neu zu formulieren sei. Die neogaullistische Opposition um Jacques Chirac fordert ähnlich wie John Major eine rasche Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft nach Osten. Hintergedanke: je größer und komplexer die EG, desto schwieriger wird eine Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten Brüssels. Die EG als Leermenge.
Mitterrand bevorzugt demgegenüber, um im Bild zu bleiben, eine Teilmengen-EG: die Union als Kernelement eines lockeren Staatengebildes der 33 („Konföderation“). Wobei die Westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft (WEU) mit den umgerüsteten Nuklear-Elementen Frankreich und Großbritannien gestärkt, das heißt für innereuropäische Konflikte einsatzfähig gemacht werden soll.
Doch mußte Mitterrand wieder die Erfahrung machen, daß auch in der einpolaren Weltordnung wenig Platz für eigene Wege – à la de Gaulle — bleibt. Vergangene Woche forderte der Präsident ein Remake der Vier-Mächte-Konferenz, um über die Reduzierung atomarer Kurzstreckenraketen zu sprechen. USA und „UdSSR“ lehnten ab: „Diese in der Tat besorgniserregende Frage sollte innerhalb der Nato verhandelt werden“, erklärte ein Bush-Sprecher. Merke: Frankreich solle erst einmal zurück in die Nato finden, dann dürfe es auch mitreden. In Genschers Ministerium ist man der gleichen Auffassung.
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