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Was ist los beim „Tagesspiegel“?

■ Nach dem Ende der Unabhängigkeit folgt jetzt die „Gesundschrumpfung“ des Berliner Blattes

28 Jahre lang war das Verbreitungsgebiet Westberliner Zeitungen im Wortsinne begrenzt. Kleine und mittlere Verlage konkurrierten gegen gleich drei Objekte der Springer Verlag AG, die damit zuletzt (1989) 76,5 Prozent der verkauften Gesamtauflage am Ort an sich zog. Die Preispolitik des Konzerns führte über drei Jahre dazu, daß alle Blätter Berlins billiger waren als im Bundesgebiet. Die Öffnung der Mauer endlich ließ die Einkehr regulärer Marktverhältnisse erwarten. Tatsächlich tummeln sich jetzt drei Großkonzerne an der Spree, die Preispolitik muß sich am Sozialgefälle orientieren, West und Ost sind getrennt von einer „Medien- Mauer“, das Umland wird dominiert von einstigen SED-Bezirksleitungen. Das „Spandauer Volksblatt“ ist als Tageszeitung dahin, die taz ist grad eben am Konkurs vorbeigeschlittert, die Mehrheit des „Tagesspiegel“ wurde verkauft an Holtzbrinck. Was geht beim „Tagesspiegel“ vor?

Auf der letzten Betriebsversammlung im Tagesspiegel wurde es mitgeteilt: Die insgesamt 480 Verlags-Planstellen sollen um 20 Prozent reduziert werden, auch die Redaktion, unlängst von 60 auf 120 Mitarbeiter vergrößert, ist betroffen. In der Druckgesellschaft Mercator dräut das Handanlegen an 40 Arbeitsplätze, die Graphischen Werkstätten mit 30 Mitarbeitern gehen (ohne Sozialplan – mangels Betriebsrat) zum 30.9. in die Liquidation, Inforadio wurde bereits abgeschaltet, seine 30 Festangestellten erwarten einen Sozialplan, die 70 Mitarbeiter der einstigen Tagesspiegel-Tochter Potsdamer Neueste Nachrichten fürchten einen Arbeitsplatzabbau um die Hälfte.

Die in Frankfurter Rundschau und journalist genannten Zahlen von 23 Millionen Jahresverlust 1992 für das gesamte Unternehmensnetzwerk und die gleich hohe Prognose für das laufende Jahr sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Ein Management, das empfindlich reduzieren will, rechtfertigt sich am besten durch dramatische Darstellung. Zur jetzigen Lage – vor allem dem Mehrheitsverkauf an Holtzbrinck – ist es durch Überlagerung von drei gravierenden Veränderungen für das alte Tagesspiegel-Gefüge gekommen: Noch vor Öffnung der Mauer wurde millionenschwer in eine neue Rotation investiert, die neuen politischen Verhältnisse brachten nicht die damit verbundenen Erwartungen an Auflagenzuwachs, und schließlich fiel in die gleiche Zeit die redaktionelle Totalveränderung nicht nur in Inhalt und Erscheinungsform, sondern vor allem durch einen – auch kostenträchtigen – Austausch der gesamten Führungsebene.

Die alte Tagesspiegel-Rotation bewältigte gerade eben die wochentägliche Druckauflage von 154.000 Exemplaren im Tagesspiegel-Umfang von maximal 32 Seiten. Aber schon die Sonntagsausgabe (163.000) mußte in zwei Etappen gedruckt und die zwei Bündel dann zusammengelegt werden – Folge für das erste Bündel: unkomfortabel früher Redaktionsschluß und höhere Produktionskosten. Eine neue Rotation war lange schon geplant, nun drängte es, die Auflage wuchs allmählich an die Schallmauer. Für rund 95 Millionen DM wurde investiert (einschließlich EDV-Redaktionssystem, Bauten usf.).

Für 1987 meldete das Blatt Umsatzerlöse von 62,7 Millionen bei einem Jahresüberschuß von 6,3 Millionen, für 1989 einen Jahresumsatz von 68 Millionen. Das scheint zunächst zu der Investsumme 95 Millionen disproportional, doch der Geschäftsleitung lag offenbar folgende Überlegung zugrunde: Die Fälligkeit der Schuldendienste beginnt bei derlei Berlin-Krediten erst im dritten Jahr nach Gewährung, bei Zinsen um fünf Prozent. Hierfür stand nicht nur die begründete Erwartung an Mehrerlösen durch Auflagenzuwachs und damit Anzeigengewinn bereit, sondern auch die sicher angelegten stillen Reserven des gesunden Unternehmens von rund 50 Millionen. Im übrigen wurden die Gewinne über Jahre zu erheblichem Anteil nicht an die Gesellschafter ausgeschüttet, sondern beiseite gelegt (thesauriert).

Diese Kalkulation kam erstmals ins Wanken, als erhebliche Summen aufgebraucht werden mußten, um das mit Maueröffnung zugewachsene Umland vertriebsmäßig zu bedienen. Dem folgte freilich kein nennenswerter Auflagenzuwachs. Auch die alsbald eingerichteten Außenredaktionen in Potsdam, Cottbus, Frankfurt/Oder kosteten viel, brachten aber kaum neue Leser.

In diese Ausgangslage fiel die Totalveränderung der Redaktion. Zum 1.4. 91 trat – nach 27 Jahren – wieder ein Chefredakteur an die Spitze, Dr. Hermann Rudolph. Im gleichen Zeitraum gingen andere leitende Mitarbeiter in den Ruhestand. Rudolph, mit dem man sich schon im Juni 1990 geeinigt hatte, wollte nur unter der Bedingung antreten, daß die Redaktion um 30 Köpfe vergrößert wird. Es wurden dann 60 mehr, womit die Redaktion auf doppelte Größe wuchs, dies freilich bei anderer Gehaltsstruktur: Die Redaktionsverdoppelung schlug mit Verdreifachung der Personalkosten zu Buche.

Weiterer kostenintensiver Schritt: Am 2.12. 91 erschien der Tagesspiegel erstmals auch am Montag. Nun fielen auch beim Tagesspiegel die zuvor ganz bewußt eingesparten Mehrkosten durch die Lohnzuschläge am Sonntag, dem Tag der Produktion, an.

Die von den Erwartungen an das neue Umland beförderte Entschlossenheit, das Blatt von grundauf zu renovieren, führte zwar zu zahlreichen Unmutsbekundungen der Leserschar, doch schlug sich das nicht in gravierendem Rückgang der Abonnenten nieder. Sehr viel stärker hat der Einzelverkauf gelitten, der sich mit den Abos zum Gesamtverkauf addiert. Nach anfänglichem Zuwachs durch Maueröffnung sank der Gesamtverkauf 1991 wieder um 1.118 Exemplare, 1992 dann noch einmal um 8.400.

Der erneute Rückgang im Jahresdurchschnitt 1992 – den übrigens alle Blätter Berlins verzeichnen (Spitzenreiter Bild mit 41.040) – erfolgte beim Tagesspiegel indessen auf einem deutlich geringeren Sockel des Zuwachses. Im Jahresdurchschnitt 1992 lag er mit einem Gesamtverkauf von 128.300 um 3.057 Stück unter (!) der Auflage zu Mauerzeiten 89.

Tagesspiegel nur falltypisch

Vergleichsweise kühn, dies monokausal auf eine nicht angenommene neue Blattgestalt zurückführen zu wollen – zweifellos aber bilden unzufriedene Stammleser eine Teilmenge. Der größere Teil wird – auch mit Blick auf die Verluste der gesamten Konkurrenz – aus einer Gemengelage zu erklären sein. Der Tagesspiegel teilt das Los aller anspruchsvollen Medien: spitz formuliert, das Splitting von Ost- und Westrezipienten steigt mit dem Niveau des Mediums. Hinzu kommt ein allgegenwärtiger Überdruß, an den Belangen der jeweils anderen Stadthälfte Anteil zu nehmen, was weder durch Tabuisieren in der öffentlichen Debatte noch beschwörende Worte der Stadtprominenz aus der Welt zu schaffen ist.

Schließlich wirkt sich auch der Unmut über die Politik naturgemäß vor allem auf politische Blätter aus.

Es wäre töricht, im bequemen Sessel der Rückschau Entscheidungen der Tagesspiegel-Geschäftsleitung zu benoten: Im Jahr 1990 war – insbesondere für Westberliner Verlage – jegliche Entscheidung ein Wagnis von hohem Risiko. Darüber kann ja auch die Konkurrenz mit millionenschweren Fehlinvestitionen Zeugnis ablegen. Fragen darf man aber, ob etwa der Beteiligung an Inforadio damals nicht allzu optimistische Prognosen zugrunde lagen.

Verausgabung, Verluste und Bedienung der Schuldendienste auf der einen Seite, Ausbleiben des erwarteten Erlösanstiegs auf der anderen führten schon im Januar 92 zu öffentlichen Spekulationen über Kaufinteressenten. Am 26.August steht fest: Holtzbrinck übernimmt 51 Prozent.

In die neugegründete Firma Verlag Der Tagesspiegel (Tsp neu) brachte der alte Verlag, jetzt als TSP-Druck und Verlagsbeteiligungs GmbH (Tsp alt) firmierend, seine Sacheinlagen gegen 49 Prozent ein, die Holtzbrinck-Holding GMZ übernahm 51 Prozent gegen Bareinlagen (woran es ja offenkundig fehlte). Dabei gingen sämtliche Medientöchter von Tsp alt entweder in den Besitz von Tsp neu oder gleich ganz an die Holtzbrinck-Holding. Das Regiment liegt jetzt bei einem sechsköpfigen Beirat, der die Gesellschaftsverhältnisse getreulich abbildet: Vorsitz Dieter von Holtzbrinck, ferner Herausgeber der Holtzbrinck-ZeitungHandelsblatt, Dr. Pierre Gerckens sowie Prof. Dr. George Turner auf der einen Seite. Der prominente Turner ist – kaum jemand weiß das – so eine Art Testamentsvollstrecker des 1983 verstorbenen Georg von Holtzbrinck und sitzt auch im Aufsichtsrat der Stuttgarter Zentrale. Auf der anderen Seite finden sich RA Dr. Wolfgang Rosener, Berater der Maier-Erben, Christian Dannenberger für Manfred Dannenberger sowie Jürgen Engert für die Tagesspiegel- Stiftung. Das ergibt numerisch ein Verhältnis 3:3. Die 51-Prozent- Mehrheit schlägt sich freilich im Entscheidungsrecht des Vorsitzenden bei einem Patt nieder, der damit praktisch zwei Stimmen besitzt. Der Stellenwert der Tagesspiegel-Stiftung, von Maier mit Sperrminorität und Besetzung mit Altverdienten des Verlages zur Sicherung der Unabhängigkeit geschaffen, ist dahin. 20,5 Prozent hielt der Verlag an sich selbst, aber das Stimmrecht ruhte. In der Gesellschafterversammlung stimmten in der Summe folglich nicht 100 Prozent, sondern nur 79,5 Prozent. Die Stiftung besaß also nicht nur 26,54 Stimmen, sondern faktisch 33,4, mehr als ein Drittel also. Die Pressestiftung konnte keinen gesellschaftsrechtlich involvierten Vertreter entsenden, denn der hätte sich selbst kontrolliert. Daher fiel die Wahl auf den Chefredakteur Fernsehen im SFB, Jürgen Engert, mit guten Beziehungen zum Tsp-Chefredakteur. An Loyalitätskonflikte hat man wohl nicht gedacht: Engert steht als „HA Politik + Zeitgeschehen und Kultur“ dienstlich unter anderem dem TV- Magazin „Kontraste“ vor. Was wohl, wenn „Kontraste“ über die Vorgänge beim Tagesspiegel reportieren will? Als 1981 „Teppichhändler“ Hossein Sabet für den Abend Dieter Gütt als Herausgeber gewann, pochte dessen Arbeitgeber WDR noch auf die „publizistische Gewaltenteilung“ und veranlaßte Gütt unverzüglich, davon zu lassen. Fred Grätz

Autor Fred Grätz ist zuständig für Medienforschung bei RIAS Berlin.

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