Was ist dran an der Rungholt-Sage?: Stadt unter
Das Nordseemuseum Husum widmet sich der sagenhaften Stadt Rungholt. Sie ging unter, weil die Bewohner die Gefahr von Sturmfluten unterschätzten. Was lernen wir daraus?
Für Cornelia Mertens ist es eine Frage von Technikgläubigkeit. „Die Menschen dachten damals, dass ihre Deiche halten, so wie wir das heute auch immer noch tun“, sagt die Wattführerin und Autorin zweier Bücher über die versunkene nordfriesische Stadt Rungholt. „Die Deiche haben eben nicht standgehalten, so wie genau 600 Jahre später in Hamburg“, sagt Mertens.
Im Januar 1362 war Rungholt in der drei Tage dauernden Marcellusflut von der Nordsee weggespült worden. Die erste „Grote Mandränke“ (Großes Menschenertrinken) wird sie an der Küste noch immer genannt, die Buchardiflut vom 11. Oktober 1634 ist die zweite „Grote Mandränke“.
Beide Hochwasser waren gar nicht so riesig, zuvor schon und vor allem danach sind weit höhere Sturmfluten überliefert, auch die Hamburger Flutkatastrophe von 1962 zählt dazu. Die Folgen der beiden „Mandränken“ aber dauern bis heute an, denn sie gestalteten den Küstenverlauf nördlich der Elbe auf Hunderten von Kilometern neu. Sie schufen das Wattenmeer, das die Unesco im Juni 2009 in den Rang eines Weltnaturerbes erhob – eine weltweit einzigartige Naturschönheit auf den nassen Gräbern ertrunkener Menschen und Tiere.
Zuvor war die schleswig-holsteinische Westküste ein Labyrinth aus Inseln, Prielen und moorigen Marschen gewesen. Die Inseln Sylt, Föhr und Amrum gibt es in wiedererkennbarer Form erst seit Mitte des 14. Jahrhunderts, ebenfalls die meisten Halligen und die Halbinsel Eiderstedt. Vor 375 Jahren aber wird auch die große Insel Nortstrand (oder Alt-Nordstrand) in Einzelteile zerlegt: Die heutigen Inseln Nordstrand und Pellworm sowie die Halligen Südfall und Nordstrandischmoor sind die Überbleibsel, die große Wattfläche dazwischen ist der Rungholtsand.
Zu diesem Zeitpunkt war Rungholt schon 280 Jahre im Schlick begraben. „Hunderttausende“ werden 1362 nicht ertrunken sein, wie der Lyriker Detlev von Liliencron 1883 in seinem Gedicht „Trutz, blanke Hans“ fabuliert. Vielleicht 8.000 mögen in der ganzen Region umgekommen sein, als die nur etwa zwei Meter hohen Deiche brachen und die Nordsee das Kirchspiel Rungholt wegspülte.
Verschwunden im Schlick
Dass es Rungholt gab, ist belegt. Unter anderem mit einer Urkunde, die Hamburger Kaufleuten Handelsfreiheit zusicherte. Sie wurde am 19. Juli 1361 unterzeichnet und mit einem Siegel versehen. Sechs Monate später war sie nutzlos. Der Hafenort nordwestlich der Hallig Südfall verschwand in Schlick und Matsch.
Eine Ursache soll gewesen sein, dass die Deiche in schlechtem Zustand gewesen sein sollen. Nach mehreren Missernten und einer Pestepidemie hatten auch in Rungholt die Menschen vermeintlich Wichtigeres zu tun. Zudem ließ kurz zuvor Dänenkönig Waldemar Atterdag auf Pellworm angeblich 7.000 säumige Steuerzahler köpfen – es fehlte wohl an Männern, die mit anpacken konnten. Einen großen Teil indes hat die Gier nach Geld zum Untergang beigetragen. Rungholt war eine zugige Streusiedlung von vielleicht 1.500 Einwohnern, die in einem großen Koog auf etwa 30 Warften siedelten. Sie gruben sich ihr nasses Grab selbst – und wer möchte, mag da einen Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen über Klimaschutz und steigende Meeresspiegel sehen.
Rungholt lag in einem sandigen Moränental, das die Eiszeit geschaffen hatte. Der Boden war weich und sackte langsam, aber stetig ab. Davon ahnten die Rungholter nichts, oder sie kümmerten sich nicht darum. Denn zugleich buddelten sie sich selbst den Boden unter den Füßen weg. Großflächig und immer weiter in Richtung Meer wurde salzhaltiges Torf in Kögen abgebaut, die nur von niedrigen Deichen geschützt wurden. Rungholter Salz war begehrt, bis nach Schweden und Flandern wurde es gehandelt. War das Vorkommen ausgebeutet, blieben die Flächen, die nun unter Normalnull lagen, sich selbst überlassen. Das Meer drang ein, es blieb, und es kam immer näher. Am Marcellustag 1362 kam für den Hafenort und mehrere benachbarte Kirchspiele das Ende.
Ob und was nachfolgende Generationen daraus gelernt haben, ist durchaus umstritten. In der Figur des Schimmel reitenden Deichgrafen Hauke Haien, der mit seiner Vision von neuartigen Deichen am Geiz und Starrsinn der Großbauern scheitert und mit ihnen untergeht, warf der Husumer Dichter Theodor Storm schon 1888 diese Frage auf.
Philosophie des Deichbaus
Die jüngsten Szenarien der Meteorologen gehen von einem Anstieg des Meeresspiegels um bis zu 100 Zentimeter bis zum Ende dieses Jahrhunderts aus. Schleswig-Holstein hat deshalb bereits seine Philosophie des Deichbaus geändert. Deiche werden nicht mehr nur erhöht, sie werden gleichzeitig deutlich verbreitert und die Krone abgeflacht. Das soll weitere Erhöhungen mit wenig Aufwand und geringeren Kosten ermöglichen.
Nach der Sturmflut vom 16./17. Februar 1962, bei der in Hamburg 340 Menschen starben, waren an den Unterläufen von Elbe, Eider und ihren Nebenflüssen, vor allem aber an der Nordseeküste die Deiche massiv erhöht worden. Nur deshalb richtete die Sturmflut vom 3./4. Januar 1976 keine nennenswerten Schäden an. Dennoch war sie mit 6,45 Metern über Normalnull das höchste und schwerste Hochwasser aller Zeiten an der Nordsee – vermutlich fast vier Meter höher als die beiden „Groten Mandränken“.
„Das Ende von Rungholt war mit den damaligen technischen Möglichkeiten nicht zu verhindern“, glaubt Cornelia Mertens. Für sie ist es nicht die Frage, ob es eine dritte Mandränke geben wird, „sondern wann und wo“. Dagegen hülfen nur immer höhere Deiche. Zum Küstenschutz gebe es keine realistische Alternative, im Zeichen des Klimawandels erst recht nicht. Denn wer nicht will weichen, so heißt es an der Küste, der muss deichen.
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