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„Was ist Liebe unter solchen Umständen?“

Aussagewillige Ex-Mafiosi gelten als Verräter: Ihre Familien halten diesem Druck nicht mehr stand  ■ Aus Palermo Werner Raith

Die Fotos auf dem Sims auf der Kommode, gleich unter dem Kruzifix, zeigen einen tiefschwarzen Lockenkopf, ein feingeschnittenes Gesicht, strahlendes Lächeln. Daneben, dasselbe Gesicht, nun schon aus dem Teenie- Alter heraus, immer noch lächelnd, immer noch ebenmäßig, eine Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Assunta bemerkt den Blick: „Das war ich einmal“, sagt sie, „das war ich einmal.“

Dann breitet sie die Hände aus, ein verlegenes Lächeln, die beiden Kinder, neun und elf, halten einen Moment beim Fernsehgucken inne, schauen zu uns herüber: „Und nun sehen Sie mich heute an. Die Fotos dort, das ganz rechts, das halb auseinandergeschnitten ist – das war vor drei Jahren.“ Sie ist, in der Tat, kaum wiederzuerkennen, aufgedunsen, aber auch wohl ganz und gar ungepflegt. Auf dem Foto jedenfalls bemerkt man deutlich den Friseur und das Make-up.

Von der weggeschnittenen Hälfte des Fotos ragt noch eine Männerhand in den verbliebenen Rest, der Arm lag wohl um die Schultern der Frau. „Ich will nichts mehr von ihm wissen“, sagt sie, und dabei füllen sich ihre Augen mit Tränen. Trotz des offenbar echten Schmerzes – irgendwie scheint auch eine Art Fragezeichen im Blick geblieben: Glaubst du mir das, scheint die stumme Frage, du mußt es mir glauben ...

Assunta ist die Frau eines „pentito“, eines ausgestiegenen Mafioso, der mit seinen Aussagen allerhand Unbill über seinen ehemaligen Clan gebracht hat. Zwölf seiner ehemaligen Kumpane wurden verhaftet, zwei bereits zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Assunta hat, so berichtet sie stockend, „seine damalige Entscheidung mitgetragen“, weil „der sich ja kaputtmachte“. Doch nun wisse sie, daß das falsch war: „Man verrät nicht seine Freunde von vorher.“

In mehreren Gesprächen im Gefängnis hat sie ihm klarzumachen versucht, daß er seine Aussagen zurückziehen soll – „aber er wollte nicht hören“. Und so ist sie denn, auf die sowieso schon immer drängenderen Anrufe früherer Freundinnen hin, zu einem heimlichen Treffen mit anderen Frauen aus dem Milieu hingegangen – und mit der Überzeugung zurückgekommen, mit ihrem Mann brechen zu müssen, wenn er seine Haltung nicht ändert.

Erstaunlich nur: Sie stand zur Zeit dieser Versammlung noch unter dem Schutz der staatlichen Kronzeugenbewacher und hatte sich trotzdem fortstehlen können. Auf diese Ungereimtheit angesprochen, kommen ihr weitere Tränen; eine Erklärung hat sie nicht, und es schiene auch unmenschlich, weiter darin herumzubohren.

Doch der Eindruck bleibt, als sei da eine gewisse Kumpanei der Bewacher nicht auszuschließen. Vielleicht hatten diese aber auch nur allzuviel Mitgefühl – nur wenige Familien, die im Zeugenschutzprogramm meist an weit entfernte Orte gebracht und mit einer neuen Identität versehen werden, halten diese Totalumstellung aus. Wenn sie schon einmal jemand anderen treffen können, ist es für sie „wie das Gefühl von Weihnachten“, sagte einer der Wachleute einmal. Nicht immer schieben die Schützer da einen Riegel vor.

Der Leidensweg der Assunta B. hat begonnen, als sich in Italien das Blatt zu wenden anfing: „Vor zwei Jahren noch feierten auch viele Nachbarn meinen Mann als einen kleinen Helden, weil er es gewagt hatte, gegen die mächtigen Bosse auszusagen“, erinnert sie sich. Damals standen alle noch unter dem Eindruck der Ermordung der Mafiajäger Falcone und Borsellino. „Aber jetzt rufen die Gören auf der Straße unseren Kindern ,infami‘ nach, Schandkerle.“

In Palermo und auch in anderen Städten und Dörfern der Insel gilt pentito inzwischen als unübertrumpfbares Schimpfwort. Aus Neapel berichten Zeitungen gar von einem neuen Spiel der Kinder in den in den Vierteln der Camorra, das „Jagd auf den pentito“ heißt – es gewinnt, wer am Ende die meisten Aussteiger zum Widerruf gebracht hat – durch Überredung oder auch durch körperliche Gewalt, wie Schwitzkasten oder Fußtritte. „Derlei habe ich hier noch nicht gesehen“, sagt Assunta, „aber die Fenster haben sie uns schon zweimal eingeworfen, und den Fiat 500 mußten wir verkaufen, weil er jede Nacht mit dem Wort ,infame‘ beschmiert wurde.“

Kurz vor Mittag kommt der Rechtsanwalt vorbei, der ihren Mann bisher verteidigt hat. Assunta will die Vorlegekette nicht öffnen: Sie wolle nichts wissen von ihrem Mann, sagt sie, außerdem habe sie Besuch, „eine wichtige Persönlichkeit“, flunkert sie – ein reiner Männerbesuch würde sie wohl diskreditieren. Doch dann flüstert der Rechtsanwalt einige Worte, und sie öffnet ihm. „Ach, Sie sind das“, sagt er und hält mir die Hand hin, „das ist nicht schlecht. Helfen Sie ihr. Sie weiß nicht mehr aus noch ein.“

Dann zieht er sich einige Minuten mit Assunta ins Nebenzimmer zurück. Assunta kommt heraus, nun offenbar noch verwirrter als vorher. Der Anwalt akzeptiert den Espresso, den eines der Kinder inzwischen auf die Flamme gestellt hat, dann setzt er sich. „Schlimme Sache das“, sagt er, „und es werden immer mehr.“ Über den Fernsehschirm flimmern gerade wieder einmal, wie seit Tagen, die Bilder aus Neapel, wo sich zwei Camorristen-Ehefrauen scheiden lassen wollen, weil ihre Männer mit den Ermittlern zusammengearbeitet haben. Ein kurzer Rückblick auf ähnliche Ereignisse der letzten Wochen zeigt dann die Schwester eines sizilianischen pentito, der bei der Festnahme des mutmaßlichen Interims-Chefs aller Cosa-Nostra-Clans, Leoluca Bagarella, mitgeholfen haben soll: Die Frau hat sich, angeblich aus Scham, umzubringen versucht.

Frauen und Mütter anderer Kronzeugen bezeichnen sich öffentlich als „ehemalige Frau“ oder „ehemalige Mutter“; Söhne von Aussteigern, die ihre Väter verfluchen, kommen ins Bild. „Das sieht schon fast wie Mode aus“, sagt der Anwalt, dann blickt er mich irgendwie geheimnisvoll an: „Andere Zeiten als noch vor sechs, acht Jahren, als Don Vitale noch lebte, eh?“ Wer die Fähigkeit der Sizilianer zu Andeutungen kennt, weiß: Hier wird eine Botschaft überbracht.

Don Vitale, ein Mafioso mittleren Kalibers, über dessen Werdegang ich kurz vor seiner Ermordung eine offenbar vom „Milieu“ als einfühlsam empfundene Reportage geschrieben hatte, war der Schwiegervater eines der Brüder von Assunta, und diese Beziehung hatte mir auch die Tür zu ihr, die sich sonst ganz abschließt, geöffnet. Will mich der Advokat warnen, will er die Reportage beeinflussen? Er merkt, daß ich am Verständnis kaue, und legt nach: „Nicht alles, was vordergründig stinkt, ist ein Übel. Nehmen Sie den Gorgonzola – ein Käse, der einen häßlichen Geruch hat, doch erinnern Sie sich noch an die Spaghetti Gorgonzola, die Sie so gerne gegessen haben?“ Die Botschaft wird klarer: Ich erinnere mich an ein Essen mit Betreuern von pentiti, bei dem auch der Anwalt anwesend war und bei dem ein Polizist die dilettantischen Schutzmaßnahmen für Kronzeugen kritisiert, stattdessen eine „milieugerechte“ Strategie zur Absicherung vor allem der Angehörigen gefordert hatte. Der Fall Vitale, aus dessen Clan mittlerweile nicht weniger als sechs Personen ausgestiegen sind, war damals ein Beispiel gewesen, über das wir gesprochen hatten.

Assunta hat inzwischen etwas Rouge aufgelegt, um die Tränensäcke zu übermalen, doch auch unter der Schminke ist deutlich zu erkennen, daß sie bemerkt: Das Gespräch zwischen dem Anwalt und mir ist alles andere als ein unverbindliches Geplauder, auch sie weiß, wie Botschaften funktionieren. Hat sie Angst, ich könne etwas preisgeben, was sie mühevoll aufgebaut hat? Sie blickt immer wieder auf die Kommode mit den Fotos: „Ich habe mit ihm gebrochen“, sagt sie unvermittelt, „bitte glaubt mir das. Ich könnte es nicht mehr aushalten. Was ist Liebe unter solchen Umständen?“

Der Anwalt hebt die Schulter. „Zunächst einmal muß man vor allem überleben“, sagt er, „dann wird man weitersehen. Und Liebe kann auch im Verzicht bestehen.“ Assunta beginnt wieder zu weinen, das Mädchen klammert sich an ihren Rock: „Warum quält ihr Mammi?“ fragt sie und wischt sich die Locken aus den Augen. „Alle quälen meine Mammi: Wer auch kommt, immer muß sie weinen.“

Der Anwalt verabschiedet sich, weiterhin eher kryptisch in seinen Botschaften: „Machen Sie Ihren Lesern vor allem klar, daß nicht alles so ist, wie es scheint“, schärft er mir ein. Dann schickt er Assunta noch um einen kleinen Schnaps in die Küche, zieht blitzschnell die Schublade der Kommode unter dem Fotosims auf und deutet hinein: Da liegt die zweite Hälfte des Fotos, der Teil mit dem Mann Assuntas drauf.

„Ist dies die neue Strategie, die milieugerechte, von der ihr damals gesprochen habt?“ frage ich den Anwalt, als ich ihn zum Auto hinunterbegleite, leise, denn Assunta steht im Treppenhaus und beobachtet uns mißtrauisch. „Non ho nissum idea“, preßt er hervor, keine Ahnung, mit einem Unterton, der eher ein Ja als ein Nein spiegelt. „Jedenfalls versteht ihr Mann ihre Haltung.“ Vermutlich war das die Botschaft, die er ihr überbracht hatte.

Der Anwalt ist, so erfahre ich später, derzeit in vielen Familien unterwegs, um solche Botschaften zu überbringen – mehr als drei Dutzend Frauen oder Mütter von Aussteigern haben sich inzwischen gegen ihre Männer oder Söhne erklärt. Die Anwälte, die die Männer vetreten, vermuten mehrheitlich, daß die Ex-Mafiosi selbst zur öffentlich verkündeten Abkoppelung raten – zu unsicher scheinen ihnen die Schutzmaßnahmen des Staates für ihre Angehörigen, oft auch zu unmenschlich. Sagen sich die Frauen dagegen von ihren Männern los, besteht immerhin die Chance, daß man sie in Ruhe läßt, ohne daß sie in weit entfernte anonyme Großstädte wechseln müssen, wo sie bald an Einsamkeit verkümmern.

Oben zurückgekehrt, sehe ich mich vor einer völlig veränderten Situation. Meine Umhängetasche steht bereits auf dem Flur, vor Assunta und ihre beiden Kinder hat sich eine kleine, dickliche, ungeheuer resolute Frau geschoben: „Gehen Sie“, sagt sie, „gehen Sie. Meine Tochter hat durch diesen Gangster schon genug erlitten. Gehen sie.“

„Gangster“, das ist wohl Pietro, der Aussteiger – ganz so, als wäre er, der vormals sogar einige Zeit städtischer Beamter war, nicht durch die Verlockungen Don Vitales, also durch die Schuld gerade ihrer Familie, zum Mafioso geworden, sondern als habe ihn nur sein Ausstieg aus der Unterwelt zum bösen Menschen gemacht. Offenbar hat sie ihn nie gemocht.

Assunta hebt die Schultern und weint wieder: Was kann man machen, deutet sie an. Und dann, als die Mutter die Tür bereits fast zugedrückt hat, hebt sie ihre beiden Kinder hoch, nur ein wenig, sie wiegen schon zu sehr, und ruft mit erstickter Stimme durch den Wortschwall der Mutter hindurch: „Aber ich tue es doch nur für sie.“

Dann fällt das Schloß zu. Hinter der Türe schallt erregt die Stimme der Mutter weiter.

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