Was alles fehlt im GroKo-Vertrag: Es hat doch nicht so gequietscht
Trägt die Koalitionseinigung wirklich eine sozialdemokratische Handschrift? Die taz hat eine Mängelliste erstellt.
Lobbyregister
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurde es endgültig aus dem Koalitionsvertrag gestrichen: ein Register aller Personen und Unternehmen, die versuchen, die Politik im eigenen Interesse zu beeinflussen. Zweck wäre gewesen, Einflussnahmen transparenter zu machen. Es hätte zudem geholfen, klare Regeln für Lobbyismus aufzustellen und Verstöße zu ahnden.
Bürgerversicherung
Der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wird mit den Zähnen knirschen. Sein Lebensprojekt – die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin – ist Opfer einer klassischen Verschleppungsstrategie geworden: Eine Kommission soll sich darum kümmern.
Kampf gegen Rechtsextremismus
23.500 rechtsextreme Straftaten zählte die Polizei 2016 – Höchststand. Viele trafen Flüchtlinge, 275 Angriffe auf Asylunterkünfte zählte das BKA im letzten Jahr. Fast täglich werden rechte Übergriffe im Land gemeldet. Im Koalitionsvertrag dazu? Nur das: Die Programme gegen Rechtsextremismus sollen ausgebaut werden – genauso wie die gegen Linksextremismus und Salafismus.
Familienarbeitszeit
Altenpflege findet nicht nur in Heimen statt. Sehr oft kümmern sich Familienangehörige selbst um ihre Eltern, Partner oder Kinder. Für die meisten bedeutet das eine Belastung, die zur normalen Erwerbstätigkeit hinzukommt. Dieser Tatsache wollte die SPD mit einem Instrument Rechnung tragen: der Familienarbeitszeit. Hier stellte die SPD eine Freistellung von der Arbeit in Aussicht – mit Lohnersatzleistung. Im Koalitionsvertrag werden die Betroffenen vergeblich nach diesem Konzept suchen.
Wahlrecht ab 16
Auch jungen Menschen die politische Beteiligung ermöglichen – zu diesem Zweck wollten die Sozialdemokraten das Wahlalter sowohl für Europaparlaments- als auch für Bundestagswahlen auf 16 Jahre absenken. Von dieser Forderung, die übrigens auch die Jungsozialisten seit Längerem stellen, ist im Koalitionsvertrag nichts übrig.
Erhöhung des Mindestlohns
Die SPD müsse „den Mindestlohn noch viel stärker als Korrekturinstrument einsetzen, als sie es bisher getan hat“. So kündigte Olaf Scholz noch im November an, den Mindestlohn mittelfristig auf 12 Euro erhöhen zu wollen. Dass Erwerbstätige sich so in die Altersarmut arbeiten, bleibt aber genauso Fakt wie das Fehlen von Scholz’ Forderung im Koalitionsvertrag.
Chancenkonto
Martin Schulz wollte die Weiterbildung in seinem Zukunftsplan besonders fördern: durch ein Chancenkonto für Erwerbstätige. Daraus wird erst mal nichts. (jck)
Leser*innenkommentare
Philippe Ressing
Frau Nahles bleibt sich treu: Verbalradikal die eigenen Kritiker niederbrüllen und vor der CDU kuschen - gequietscht hat Sie! Als Arbeitsministerin musste sie samt Partei ja auch zum MIndestlohn getragen werden - sowas von Bätschi.....
IL WU
Je weniger sich von den SPD Hirngespinsten sich in dem Koalitionsvertrag stehen, desto besser.
rotaticus53
Außerdem vermisse ich eine kritische Betrachtung der Ministerien, z.B. was das Lobbyisten Potential betrifft. Wirtschaft, Energie, Landwirtschaft, Verkehr, Digitales, Bauen, Wohnen und Gesundheit haben wohl das meiste Lobby Kapital, insofern natürlich keine Überraschung das dies Thema bei den Verhandlungen unter den Tisch fiel. Dazu noch das Innen, sowie das Heimatministerium, so das die CSU im Blick auf die Integration von Flüchtlingen quasi die Deutungshoheit hat. Da fühle ich mich, auch gerade von den ÖR Medien, hintergangen, die sich nur an der Anzahl der Ministerien abarbeiten, ohne mal hinter die Fassade zu schauen. Diese Groko ist Chancenlos!
Jakob Cohen
Mal ganz ehrlich, wundert das wirklich jemanden?
Die SPD dient als Mehrheitsbeschaffer und bekommt dafür Posten.
Die sorgen sich nur um sich selbst, nicht um ihre Wähler!
Mal sehen wie weit sie noch abrutschen. Die AfD haben sie ja schon fast erreicht!
mowgli
Na und? Mängelliste hin oder her - das Wichtigste ist doch, dass Martin Schulz Außenminister (und also Lieblingspolitiker aller Deutschen) wird und Andrea Nahles sich als nachrückende Parteichefin für die nächste Runde in Positur bringen kann.
Wenn ich eines gelernt habe in den beinah 30 Jahren seit der Wende, dann dass man all seine Chancen ebenso geschickt wie rücksichtslos nutzen muss, wenn man Systemsieger werden will. Wer arm ist, schwach, krank, ungebildete, sehr jung, sehr alt, gehandikapt oder wer stört, der darf nicht auf die Gnade von Möchtegern-Siegern hoffen. Die SPD ist offenbar nur eine Volkspartei unter ganz vielen anderen, die alle ziemlich ähnlich „ticken“.